Trends und Innovation
Möglichmacher der Transformation.
Die führenden Industrienationen rund um den Globus treiben ihre Energiewende voran. Allerdings gibt es weiterhin große Herausforderungen auf dem Pfad zur Klimaneutralität. An vielen Stellen wird jedoch an Lösungen gearbeitet, mit denen der Ausstoß von Treibhausgasen deutlich reduziert werden kann. Das macht Hoffnung, dass die gesteckten Ziele erreicht werden.
November 2024
Am letzten Septembertag ging im Kohlekraftwerk in Ratcliffeon-Soar südwestlich von Nottingham buchstäblich der Ofen aus. Damit endete in Großbritannien eine Ära. Mehr als 100 Jahre lang dominierte die Kohleverstromung die Energieversorgung im Vereinigten Königreich. Sie verhalf der heimischen Industrie einst zu einem rasanten Aufschwung. Doch der fossile Energieträger mit seinem hohen CO2-Ausstoß hat auf der Insel keinen Platz mehr. Ratcliffe-on-Soar war der einzig noch verbliebene Kohlemeiler. Nur noch etwas mehr als ein Prozent der gesamten Energieproduktion stammte im vergangenen Jahr aus Kohle. Vor einem Jahrhundert waren es noch fast 100 Prozent.
Die neue Labourregierung, die seit Anfang Juli an der Macht ist, will die Transformation des Landes energisch vorantreiben. Großbritannien soll eine „Supermacht für saubere Energie“ werden, sagte Energie-Staatssekretär Michael Shanks vor wenigen Wochen der Tageszeitung Times. Geplant ist, den Energieträger Gas durch weitere Offshore-Windparks in der Nordsee schrittweise zu ersetzen und die bestehenden Kernkraftwerke weiter zu nutzen. Darüber hinaus hat die Regierung umgerechnet rund 25 Milliarden Euro für den Bau von Anlagen zur CO2-Abscheidung und -Speicherung bereitgestellt. Mit dieser sogenannten CCS-Technologie sollen unvermeidbare Emissionen aufgefangen und gebunden werden.
Großbritannien ist zwar aus der Europäischen Union (EU) ausgetreten. Doch wenn die Pläne der Labourregierung aufgehen, wird das Land als zweitgrößte Industrienation Europas die ehrgeizigen Klimaziele des Green Deals der EU trotzdem erfüllen. Nach dem europäischen Klimarecht müssen die EU-Staaten ihre Netto-Treibhausgasemissionen bis 2030 um mindestens 55 Prozent gegenüber 1990 senken. Die EU-Kommission erwägt, das Ziel bis 2040 auf 90 Prozent zu verschärfen. Spätestens zehn Jahre später soll die EU netto klimaneutral sein.
Steiniger Weg zur Klimaneutralität.
Um diese Meilensteine zu erreichen, müssen die EU-Staaten – und auch Deutschland – an Tempo zulegen. Vor allem im Verkehr und bei der energetischen Sanierung des Gebäudebestands gibt es noch großen Nachholbedarf. Eine im Sommer veröffentlichte Studie des auf Klimaschutz spezialisierten Beratungsunternehmens The Climate Desk kommt zum Ergebnis, dass das angestrebte 90-Prozent-Ziel nur erreicht werden kann, wenn in etwa 15 Jahren mindestens 81 Prozent des Stroms aus erneuerbaren Quellen stammen. Der Elektrifizierungsgrad im Verkehr muss auf 75 Prozent steigen, während der Energieverbrauch in Gebäuden gegenüber heute um die Hälfte sinken muss.
Ohne den großtechnischen Einsatz der CCS-Technologie und den Einsatz von „grünem“ Wasserstoff halten die Autorinnen und Autoren der Studie die Erreichung dieser Ziele für unrealistisch. Laut KfW Research geht die Transformation hin zur Klimaneutralität mit gesamtwirtschaftlichen Investitionserfordernissen von rund fünf Billionen Euro bis zur Mitte des Jahrhunderts einher – und das allein in Deutschland. Passend dazu kommt die Unternehmensberatung McKinsey in einer eigenen Studie zu dem Schluss, dass ein „massiver Investitionsschub“ nötig sei, um die Energiewende im notwendigen Tempo voranzutreiben. Hierzulande müssten jährlich 1,3 Billionen Euro zusätzlich in Forschung und Entwicklung sowie Maßnahmen rund um künstliche Intelligenz und Automatisierung investiert werden, um die gesteckten Klimaziele zu erreichen.
Chancen für neue Geschäftsmodelle.
„Die öffentliche Hand kann das nicht allein stemmen“, beschreibt Stefan Wintels, Chef der KfW-Bankengruppe, die Situation. „90 Prozent der Klimaschutzinvestitionen sind von privaten Investoren zu leisten.“ Im Gegenzug bieten sich ihnen im Zuge der Transformation vielfältige Investitionsmöglichkeiten – etwa bei den „Möglichmachern“, etablierten Unternehmen ebenso wie Start-ups, die die technischen Lösungen und das Know-how bereitstellen, damit Wirtschaft und private Haushalte die Energiewende schaffen. Ein Beispiel: Weil die Sonne nicht immer scheint und der Wind nicht immer weht, kommt es bei der Stromerzeugung aus erneuerbaren Energien zu Schwankungen. Diese müssen ausgeglichen werden, um das Stromnetz stabil zu halten und vor allem die Versorgungssicherheit für Unternehmen zu gewährleisten.
Der Markt für Speicherkapazitäten wird daher stark wachsen. In seinem New Energy Outlook 2024 prognostiziert das Forschungs- und Beratungsunternehmen BloombergNEF (BNEF), dass die weltweite Energiespeicherkapazität bis 2030 jährlich um 21 Prozent von heute 137 auf 442 Gigawattstunden steigen wird. Die USA werden dabei der am schnellsten wachsende Energiespeichermarkt der Welt sein.
Noch größeres Potenzial dürfte jedoch China haben. Das Reich der Mitte baut mit 64 Prozent der weltweit im Entstehen befindlichen Solar- und Windenergiekapazitäten fast doppelt so viele Anlagen wie alle anderen Länder zusammen. Zu diesem Ergebnis kommt eine Studie der US-amerikanischen Nichtregierungsorganisation Global Energy Monitor. Dahinter folgen mit weitem Abstand die USA, Brasilien, Großbritannien und Spanien. China investiert so viel wie kein anderes Land in erneuerbare Energien – was sich für die stotternde Volkswirtschaft des Landes als eine echte Konjunkturstütze erwiesen hat. Investitionen in grüne Technologien haben im vergangenen Jahr zu etwa 40 Prozent des Wirtschaftswachstums beigetragen. Bis 2060 will China klimaneutral sein.
Für Projektentwickler und Energieversorger eröffnen sich damit rund um den Globus aussichtsreiche Märkte. So können beispielsweise die Betreiber von Solarstromparks den tagsüber produzierten Strom zwischenspeichern und abends und nachts – wenn die Preise auf dem professionellen Strommarkt höher sind – ins Netz einspeisen. Bisher lohnten sich solche „Speichergeschäfte“ oft nur mit staatlicher Förderung. Doch die Preise für Speicher sinken. Das Fraunhofer-Institut für Solare Energiesysteme (ISE) kommt in einer im August veröffentlichten Studie unter anderem zu dem Ergebnis, dass sich Photovoltaiksysteme in Kombination mit einem Batteriespeicher für Betreibende zunehmend rechnen, weil die Gestehungskosten sinken. „Unsere Berechnungen zeigen, dass die in Deutschland gerade anlaufenden Großprojekte mit einer Kombination aus PV-Freiflächenanlage, Windpark und stationären Batteriespeichern gute Investitionen sind“, stellt Christoph Kost, Abteilungsleiter für Energiesystemanalyse am ISE und Hauptautor der Studie, fest.
Digitalisierung ein Schlüsselfaktor.
Die zunehmende Elektrifizierung der Energieerzeugung, der Mobilität und der Produktionsprozesse in der Industrie treibt zudem die Stromnachfrage. Nach Angaben der EU-Kommission wird der Verbrauch allein in der Europäischen Union bis 2030 um 60 Prozent gegenüber 2022 steigen. Um diesen Bedarf zu decken, sind nach Schätzungen von BNEF bis 2030 Investitionen von rund 450 Milliarden Dollar pro Jahr allein in die Stromnetze erforderlich. Gute Aussichten also für die Betreiber von Windparks oder Solaranlagen.
Neben der Energiewirtschaft selbst ist die Digitalisierung ein Schlüsselfaktor für die anstehende Transformation. Datenbasierte Steuerungssysteme, künstliche Intelligenz und intelligente Infrastrukturen sind die Voraussetzung, um die Effizienz regenerativ erzeugter Energie nachhaltig zu steigern. „Mit mehr Daten können wir lernende Verfahren aus dem Bereich der künstlichen Intelligenz einsetzen“, sagt Astrid Nieße, Professorin für Digitalisierte Energiesysteme an der Uni Oldenburg: „Damit lassen sich zum Beispiel Verbrauchs-, aber auch Erzeugungsprognosen erstellen, etwa durch die Vorhersage von Sonnenstunden“.
Auch grüner Wasserstoff, der mit Strom aus erneuerbaren Energien erzeugt wird, gilt als Möglichmacher. Viele Unternehmen arbeiten bereits an der Serienreife von Brennstoffzellen für den Schwerlastbereich. Denn Versuche mit Oberleitungs-Elektro-Lkw haben sich als Flop erwiesen. Der Betrieb auf den drei Teststrecken in Deutschland – unter anderem auf der A5 zwischen Frankfurt am Main und Darmstadt – ist inzwischen eingestellt worden. Rund 200 Millionen Euro für Aufbau und Betrieb sind damit verloren.
Die Logistikbranche setzt nun weltweit auf die Wasserstofftechnologie als Alternative. Im Fokus stehen vor allem Frachter, Fähren und Kreuzfahrtschiffe. Der weltweite Schiffsverkehr ist für rund drei Prozent des globalen CO2-Ausstoßes verantwortlich, da häufig Schweröl für die Motoren verwendet wird. Dem Treibstoff droht jedoch in wenigen Jahren das faktische Aus, da immer mehr Häfen ein Einlaufverbot verhängen. In europäischen Gewässern müssen Reeder bereits seit Anfang des Jahres für den CO2-Ausstoß ihrer Flotte zahlen. Wie an der Tankstelle steigen die Kosten pro Gramm Kohlendioxid von Jahr zu Jahr. Spätestens 2050, so hat es die Internationale Seeschifffahrtsorganisation beschlossen, soll auch der weltweite Schiffsverkehr CO2-frei sein. Das erhöht den Druck auf die Schifffahrt, in Zukunft weitgehend klimaneutral zu fahren. Dabei könnte die Brennstoffzelle eine entscheidende Rolle spielen. „Der Einsatz von grünem Wasserstoff in einem Brennstoffzellenantrieb kann einen nennenswerten Beitrag zur Dekarbonisierung der Schifffahrt leisten“, glaubt Tobias Reidl, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Fraunhofer-Center für Maritime Logistik und Dienstleistungen (CML) am Harburger Binnenhafen. Auch hier ergeben sich Chancen für Möglichmacher.
Ohne Kupfer läuft nichts.
Für den klimafreundlichen Umbau von Produktionsprozessen und Lieferketten in der Weltwirtschaft werden Rohstoffe benötigt. Kupfer beispielsweise ist aufgrund seiner guten Leitfähigkeit ein unverzichtbarer Bestandteil vieler Komponenten in der Elektrotechnik und ein wichtiger Baustein für Windkraftanlagen, Solarpaneele und auch für Batterien von Elektrofahrzeugen. In einem Elektroauto steckt mit rund 80 Kilogramm im Durchschnitt etwa dreimal so viel Kupfer wie in einem Fahrzeug mit Verbrennungsmotor.
Vor diesem Hintergrund könnte die Nachfrage nach Kupfer in den kommenden Jahren deutlich steigen. Das Finanzdatenunternehmen S&P Global prognostiziert, dass im Jahr 2035 weltweit rund 50 Millionen Tonnen Kupfer benötigt werden. Das wäre mehr als eine Verdoppelung gegenüber der Minenproduktion von 22 Millionen Tonnen im vergangenen Jahr. Daraus ergeben sich Möglichkeiten für Recycler und Minenspezialisten. Denn selbst im günstigsten Fall werden die Minenbetreiber ihre Produktion nach Einschätzung von Fachleuten nur um etwa fünf bis sechs Millionen Tonnen steigern können – unter anderem, weil die Ausbeute in den bestehenden Minen sinkt. Die Erschließung neuer Lagerstätten kostet jedoch Zeit und Geld, zumal in vielen Fällen strenge Umweltauflagen zu erfüllen sind.
Der Blick rund um den Globus zeigt: An vielen Stellen wird bei der Energiewende Tempo gemacht. Einige aussichtsreiche Konzepte sind zwar noch in der Entwicklung und daher mit Unsicherheiten behaftet. Doch es wächst die Zuversicht, dass die Herausforderungen der Transformation gemeistert werden können.
Quelle: fondsmagazin
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