INTERNATIONAL HIGHRISE AWARD 2020
Das beste Hochhaus ist ein Stadttor
In Stockholm steht der Sieger des „Internationalen Hochhaus Preises 2020“. Die Doppeltürme Norra Tornen markieren den Übergang in ein neues Stadtviertel.
Oktober 2020
Victor Stoltenburg hatte das richtige Gebäude im Blick: Der Geschäftsführer der Deka Immobilien Investment konnte sich schon bei der Auswahl der fünf Finalisten zum Internationalen Hochhaus Preis 2020 besonders für die Norra Tornen begeistern. Der Immobilien-Experte lobt besonders die „Ausgestaltung der Baukörper mit modularen kastenartigen Erkern und die Oberflächengestaltung mit rauen Betonelementen“. Das sei ein bemerkenswerter Akzent im Stadtbild. Auch seine Mit-Juroren zeigten sich überzeugt von der herausragenden Leistung von Reinier de Graaf, Partner im Architektenbüro OMA und des Bauherrn Oscar Engelbert von Oscar Properties. Jetzt haben sie die Wohnhochhäuser in Stockholm zum Sieger des International Highrise Award gekürt, wie der Preis auf Englisch heißt. Die Auszeichnung ist von der Stadt Frankfurt am Main gemeinsam mit dem Deutschen Architekturmuseum (DAM) und der DekaBank am 29. Oktober in der Frankfurter Paulskirche verliehen worden. Das Gewinnergebäude heißt übersetzt „nördliche Türme“ und bildet optisch eine moderne Interpretation des klassischen Stadttores. Norra Tornen stehen in Stockholm am Übergang von Vasastaden, einem Wohnviertel mit Bebauung überwiegend aus den 1930er Jahren, zum gerade neu entstehenden Stadtteil Hagastaden. In direkter Nachbarschaft zum Karolinska Institut, das jährlich den Träger des Nobelpreises für Physiologie oder Medizin bestimmt, ist Hagastaden mit 96 Hektar Stockholms derzeit größtes Stadtentwicklungsgebiet und damit etwa dreimal so groß wie die berühmte Altstadt. Bis 2030 entstehen hier rund 50 000 Arbeitsplätze und 6000 neue Wohnungen, 3000 auf der Stockholmer Seite und 3000 in der Nachbargemeinde Solna. Norra Tornen steht also am Übergang von zwei Kommunen und verkörpert das auch gestalterisch.
„Die Plattenbauweise ist offensichtlich über jede Art Klassenkampf erhaben.“
Aus Sicht von Peter Cachola Schmal, Direktor des Deutschen Architekturmuseums (DAM) bilden die Norra Tornen eine „neue, städtebaulich prägende Torsituation, die durch ihre skulpturale Wirkung besticht. Sie repräsentieren eine zeitgemäße und zukunftsfähige Vision für die Stadt und nehmen ein bekanntes stadtgestalterisches Motiv in Stockholm auf.“ Doppeltürme wurden dabei in der schwedischen Hauptstadt bereits in der Vergangenheit als symbolische Tore eingesetzt. Gleichzeitig vermögen die Türme auch die bestehende bauliche Struktur Stockholms aufzunehmen. Mit dem sanften Braunton fügt sich die Fassade in die erdige Farbpalette der schwedischen Metropole. Die Doppeltürme seien zudem Ausdruck einer gleichwertigen Gesellschaft, womit sie nicht nur ein Charakteristikum der schwedischen Kultur, sondern auch eine universelle Botschaft vermitteln.
Die Kombination aus hochwertigen Betonfertigteilelementen, die zu individuellen Loggien gefügt wurden und der Kontrast zu den feinen Details der Innenräume zeichnen die Hochhäuser aus. Alle Wohnungen haben mindestens einen Balkon und orientieren sich in der Regel in mehrere Richtungen. Riesige Fensterflächen bringen auch während Schwedens langer, dunkler Wintermonate das wenige Tageslicht ins Innere. Mittels einer App können die Bewohner den Kinoraum für bis zu zehn Personen buchen, ferner ein kleines Apartment für Gäste oder den Versammlungsraum, der mit einer Küche ausgestattet ist und Platz für größere Dinnerpartys bietet. Eine Sauna, ein kleines Fitnessstudio und ein Yoga-Raum sind jederzeit verfügbar. Im Erdgeschoss der beiden Türme sind Gewerbeflächen untergebracht. Im Turm Helix soll eine öffentliche Gastronomie auf der Dachterrasse im 16. Stock eingerichtet werden.
„Hier ist eine städtebaulich prägende Torsituation entstand, die durch ihre skulpturale Wirkung besticht.“
Die meisten Fassadenelemente der Norra Tornen sind vorgefertigt angeliefert worden. Diese Bauweise, die besonders in den sozialistischen Staaten Osteuropas verbreitet war, „hat das politische System, mit dem sie am häufigsten in Verbindung gebracht wird, überlebt und ist offensichtlich über jede Art Klassenkampf erhaben", so de Graaf. Der größte Vorteil: „Dadurch konnten die Bauarbeiten das ganze Jahr über fortgesetzt werden – selbst in den Wintermonaten, in denen das Gießen von Ortbeton schwierig und kostspielig geworden wäre." Außerdem sparte die Vorfertigung erheblich Zeit – ein Stockwerk wurde pro Woche fertiggestellt. Ästhetik und innovative Techniken sind aber nicht die einzigen Kriterien, nach denen die Experten ein Sieger-Hochhaus küren. Die Jury aus Architekten, Tragwerksplanern, Immobilienspezialisten und Architekturkritikern beurteilt die nominierten Projekte neben ihrer städtebaulichen Einbindung und Wirtschaftlichkeit auch nach ihrer Nachhaltigkeit. Und auch da haben die Norra Tornen einiges vorzuweisen: Etwa eine energieeffiziente Sandwichfassade mit 23 cm dicker Wärmedämmung und dreifachverglaste Fenster ohne Riegel und Pfosten zur Vermeidung von Kältebrücken. Eine natürliche Belüftung der Wohnräume wird durch Lüftungselemente in den Fassadenbauteilen erreicht. Weitere technische Gebäudeausrüstungen wie ein Wärmerückgewinnungssystem, Wärmetauscher in jeder Wohnung oder Gewerbeeinheit und der Anschluss an das Fernkühlsystem tragen ebenfalls zur Nachhaltigkeit der Türme bei. Auch das anfallende Abwasser wird für verschiedenen Einsatzzwecke genutzt. Die gute Anbindung an den öffentlichen Nahverkehr ist ebenfalls ein wichtiger Bestandteil der Konzeption des Gebäudepaares. Norra Tornen sollen schließlich auch das Tor in eine neue umweltbewusstere Zeit sein.
DAS IST DER IHP
Der Internationale Hochhaus Preis wird bereits seit 2004 vergeben. Seitdem wird er alle zwei Jahre von der Deka, der Stadt Frankfurt und dem DAM zusammen organisiert und finanziert. 31 Bewerber aus 14 Ländern wollten in diesem Jahr die Statuette des international bekannten Künstlers Thomas Demand und das Preisgeld in Höhe von 50.000 Euro gewinnen. Architekten und Bauherren müssen dazu in den vergangenen zwei Jahren einen Wolkenkratzer fertiggestellt haben, der mindestens 100 Meter hoch ist. Die neunte Preisverleihung in der Frankfurter Paulskirche konnte Corona bedingt am 29.Oktober nur virtuell erfolgen.
Mehr zum IHP, den anderen nominierten Gebäuden und den Urteilen der Experten lesen Sie hier auf der Seite des Internationalen Hochhauspreises.