Impuls
Die Kraft der Lern-Maschinen.
Ob beim Einkaufen, in der Freizeit, beim Arzt oder am Arbeitsplatz: Längst werden Menschen im alltäglichen Leben von künstlicher Intelligenz unterstützt. Und die Systeme, die eigenständig immer mehr dazulernen, stehen erst am Anfang. Während Regierungen den Rahmen für den Einsatz der KI abstecken, erschließen sich viele Unternehmen eine neue Möglichkeit, produktiver und krisenfester zu werden. Auch Anlegerinnen und Anleger können an der KI-Revolution teilhaben.
Mai 2023
Willie Dreyer hat sichtlich gute Laune. Der kräftige Farmer steht mitten in seinem Feld im südafrikanischen Viljoenskroon, 170 Kilometer südwestlich von Johannesburg. Sein Mais überragt ihn um fast einen halben Meter, dicht wie ein Dschungel und prachtvoll grün überall um ihn herum. „Den Ertrag habe ich in den vergangenen Jahren erheblich steigern können“, sagt der Landwirt. Und das trotz immer häufigerer Extremwetterlagen mit Trockenzeiten, Stürmen oder Starkregen.
Denn Dreyer passt Saatgut, Pflanzzeiträume, Düngung und Ernte seit Jahren immer genauer den Wind-, Boden- oder Wetter-bedingungen an, und das lange bevor sich diese weiter wandeln. Dahinter stecken weder Hellseherei noch Wundergaben oder Hexenkunst: „Ich nutze Climate Field View“, sagt der Farmer.
So heißt eine Software-Plattform von Bayer. Die sammelt Millionen einzelner Daten über Bodenbeschaffenheit, Wetterbedingungen und Pflanzenwachstum – mithilfe von Sensoren in den Feldern, Drohnen über der Landschaft und Satellitenbildern. Und dann legt ein Knecht namens künstliche Intelligenz (KI) los: Dessen Algorithmen und maschinelles Lernen machen die Analysen und Vorhersagen auf Dreyers App oder PC ständig von selbst immer genauer – und seine Anbaupraktiken damit effektiver, umweltschonender und kostengünstiger. Ein gutes Geschäft für den Landwirt – und ertragreich auch für den deutschen Chemiekonzern; Landwirtinnen und Landwirte in mehr als 20 Ländern setzen die Plattform auf über 60 Millionen Hektar ein.
Lernen, wie der Mensch denkt.
Nachhaltiger Gewinn dank KI funktioniert: Zu diesem Ergebnis kommen Unternehmen aus den unterschiedlichsten Branchen und Ländern immer öfter. Denn die Rechentechnik hinter der KI ist eine Revolution, die das globale Wirtschaften auf neue Füße stellt. Software aller Art muss nicht mehr aufwendig programmiert werden – die Computer lernen vielmehr selbst menschenähnliche Fähigkeiten wie Wahrnehmung, Spracherkennung, Entscheidungsfindung oder Problemlösung. Und programmieren sich eigenständig und rasend schnell.
Mit KI können Unternehmen „Prozesse automatisieren, die Effizienz steigern, Kosten senken und ganz neue Geschäftsmöglichkeiten entdecken“, fasst Bernd Köcher zusammen. Der Fondsmanager des weltweit anlegenden Aktienfonds Deka-Künstliche Intelligenz beschäftigt sich seit Jahren mit den Einsatzmöglichkeiten der Technologie in praktisch allen Branchen.
Eine Studie der Unternehmensberatung McKinsey prognostiziert durch den Einsatz von KI bis 2030 weltweit einen wirtschaftlichen Nutzen von bis zu 13 Billionen US-Dollar. Durch KI werde allein in der Produktion die Produktivität um bis zu 20 Prozent steigen.
ChatGPT nutzen hunderte Millionen Menschen.
So setzt etwa Siemens längst Maschinen in der Turbinenfertigung ein, die sich selbstständig untereinander vernetzen oder warten und aus diesen Daten ihren Einsatz immer weiter optimieren. Und Toyotas KI verkürzt die Fahrwege autonomer Lieferwagen in den Werken, weil die ihre Fahrten selbst analysieren und optimieren. Alles ohne menschliches Zutun – und meist auch, ohne dass die Öffentlichkeit davon Notiz nimmt.
Anders beim derzeit wohl prominentesten Beispiel ChatGPT. Der Chatbot vom Start-up OpenAI ist mit kräftiger Unterstützung von Microsoft entwickelt worden. 570 Gigabyte an Text-daten sind seine Grundlage, so viel wie 165.000-mal der Inhalt „Der Herr der Ringe“ und „Der Hobbit“. Mehr als 600 Millionen Menschen nutzen schon regelmäßig die virtuelle Ansprache, die Sprachmuster und -strukturen erkennt, wahrscheinliche Inhalte filtert und damit täuschend menschenähnlich unterschiedlichste Fragen beantwortet. Die juristische Examensprüfung? Eine vergleichende Analyse der Bilanzen von SAP und Salesforce? Die Vorteile von Wärmepumpen gegenüber Fotovoltaik? ChatGPT generiert ausführlich mögliche und plausible Antworten auf diese und unzählige andere Fragen.
KI schafft auch neue Jobs.
Dabei darf man ChatGPT aber nicht blind vertrauen, was das Unternehmen freimütig eingesteht: So belegen etwa die KI-Chatbots auch schon einmal Aussagen mit Studien, die gar nicht existieren – oder nennen schlicht falsche Fakten. Es stand halt so im gesammelten Textfutter. Denn die KI selbst bewertet nicht die Datenqualität, sondern nur die Plausibilität der gefundenen Angaben anhand der gewählten Ausgangsfrage. Auch bei anderen KI-Anwendungen wie Dall-E für Bilder oder One AI für Ton-Dateien kann es für die Nutzerinnen und Nutzer heikel werden. Etwa, wenn die Rechte an den ausgewählten Bildern oder Liedern bei Dritten liegen – oder das KI-Ergebnis allzu gewagt weiterverwertet wird.
Mit Sorge betrachten aber auch viele Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer die Folgen der KI-Disruption: So könnten etwa bei PR und Marketing künftig KI-Kommunikatoren Presse-mitteilungen oder Werbebotschaften fertigen, Steuerberatungen könnten unter lernbegieriger Finanzsoftware leiden, IT-Fachleute durch selbst programmierende Bots ersetzt werden – die Liste ist lang. Sicher ist, dass sich gerade auch viele Hochqualifizierte wegen der neuen Technik anpassen und sich manche auch ganz andere Jobs suchen müssen.
Doch die dürfte es reichlich geben – nicht zuletzt dank KI. Laut einer Studie der Beratung Accenture wird der Einsatz von KI allein in Europa bis 2035 ein Wirtschaftswachstum von 1,6 Billionen Euro generieren – und rund 2,7 Millionen neue Arbeitsplätze. Schon heute werden beispielsweise Sprachwissenschaftlerinnen, Autoren, Fotografinnen oder Lehrer von den KI-Konzernen gesucht; die Experten sollen die zugrunde liegenden Software-Programme verbessern und Ergebnisse der KI-Leistungen prüfen und optimieren. Die Kombination aus Mensch und Maschine macht Unternehmen resilienter, produktiver und auch kreativer – sowohl bei der Entwicklung als auch bei der Anwendung der Technik.
Betrüger schon im Ansatz herausfiltern.
In der Sparkassen-Finanzgruppe wird etwa KI eingesetzt, um aus der Big-Data-Analyse der Geldströme betrügerische Transaktionen und Aktivitäten in Echtzeit schon im Ansatz auszufiltern. Die Abteilungen in den Sparkassen werden proaktiv gewarnt und können dann einschreiten. Dazu hat die Finanz Informatik in einem gemeinsamen Prozess mit IBM, Anwenderinnen und Anwendern das Tool „KIWI“ entwickelt: eine KI-basierte Wissensintegration, die dem IT-Dienstleister der Sparkassen mehr Effizienz beim Beurteilen verdächtiger Transaktionen ermöglicht.
In der Gesundheitsbranche ist das Unternehmen Babylon Health ein Pionier beim KI-Einsatz. Über eine App können ranke ihre Symptome eingeben und bekommen eine erste ärztliche Diagnose. Mit seinen Services setzt das Unternehmen inzwischen umgerechnet mehr als eine Milliarde Euro um. „Im Jahr 2022 haben wir unseren Umsatz um das 3,5-Fache gesteigert“, sagt CEO und Gründer Ali Parsa.
Wichtigster Auslandsmarkt für den Briten sind die USA. Kein Wunder: Denn hier ist die Dynamik beim Thema KI am größten. Vier von fünf KI-Start-ups sind amerikanisch, auch die Anwendungsmöglichkeiten sind beinahe unbegrenzt. Zudem sitzen dort auch Firmen wie Alphabet, Amazon, Apple oder Meta, die über besonders große Datenmengen der Milliarden Nutzerinnen und Nutzer ihrer Services verfügen. Und was die KI daraus macht, darin mischt sich der Staat kaum ein.
Gütesiegel sichere KI.
Vor allem in Europa wird dagegen intensiv an KI-Regeln gearbeitet, die Firmen einen Verantwortungsrahmen für den KI-Einsatz geben sollen. Hendrik Reese, Partner bei der Unternehmensberatung PwC Deutschland, sieht das mittelfristig eher als eine Chance: „Wenn Unternehmen sich in Sachen KI-Regeln als Vorreiter positionieren, können sie sich enorme Wettbewerbsvorteile erschließen.“ Eine verantwortungsbewusste, konforme und im rechtssicheren Raum entwickelte Intelligenz könne dann ähnlich wie sicheres Cloud-Computing zu einem Markenzeichen made in Europe werden.
Denn das KI-Geschäft nimmt gerade erst Fahrt auf. Experte Köcher betont, dass KI bisher nur einen kleinen Anteil der gesamten Ausgaben für Informationstechnologie ausmacht. Die Technik wird zudem oft nur unterstützend eingesetzt, etwa bei Wartung oder Prüfung. Doch das Wachstum ist rasant, weil die selbst lernenden Systeme eine Kerntechnologie für Zukunftsfelder wie autonomes Fahren, Biotech-Medizin oder Text- und Sprachgenerierung sind.
Autoindustrie, Raumfahrt, Handel oder Chemie sind Beispiele, die Accenture in seiner Studie unter rund 1.200 Firmen aus den 16 größten Branchen als besonders dynamische Anwender identifiziert hat.
Bei den weltweit größten Unternehmen, die in ihren Bilanzen im Jahr 2021 über Chancen der KI sprachen, ist demnach „die Wahrscheinlichkeit für Aktienkurs-Steigerungen um 40 Prozent höher“ als bei den KI-Verweigerern, so Accenture-Experte Andreas Braun.
Neue Kräfte auf dem Acker.
Die unermessliche Kraft der Lernmaschinen erschafft so auch ganz neue Produkte, Dienstleistungen – und Firmen, die es mit den Platzhirschen der jeweiligen Branchen aufnehmen. Das erfährt gerade auch Bayer. Denn beim Kampf um die KI auf dem Acker macht den Leverkusenern ein Newcomer aus Berlin Konkurrenz: Die Geografin Simone Strey hat dazu die App Plantix entwickelt. Mit der können Bauern einfach ein Foto von einer augenscheinlich erkrankten Pflanze schießen. Eine KI analysiert das Bild, vergleicht es mit einer Datenbank von 40 Millionen Handyfotos anderer Farmer und empfiehlt Behandlungsmöglichkeiten gegen Blattläuse, Pilze, Würmer oder Bakterien. Rund 400 Krankheiten und Nährstoffmängel an 30 verschiedenen Nutzpflanzenarten kann die KI bereits erkennen.
„Unsere Märkte sind dort, wo es viele Kleinbauern gibt“, sagt Gründerin Strey. 80 Prozent der über eine Million Nutzerinnen und Nutzer von Plantix kommen aus Indien. Seit ein paar Monaten ist Strey übrigens in Kooperation mit dem Großkonzern Corteva auf einem neuen Markt aktiv: Südafrika. Mais-Farmer Willie Dreyer wird das sicher gerne hören.
Quelle: fondsmagazin
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