Impuls
„Die Zukunft hat in unserem System kein Wahlrecht“
Die Demokratie in Deutschland ist strukturell kurzsichtig und muss zukunftsfähiger werden, stellt Dr. Wolfgang Gründinger, Politikwissenschaftler und Publizist bei Enpal, auf der Deka Institutionell Investment-Konferenz 2024 fest. Dabei erklärt er, wieso dazu unbedingt jüngere Menschen stärker integriert werden sollten und weshalb es eine gemeinsame Faktenbasis als Grundlage von Demokratie braucht.
Dezember 2024
Klimakrise, das Erstarken des Faschismus vielerorts, Chinas Machtexpansion: Die Welt brennt – und die Demokratie scheint zuzuschauen. Getrieben von einem Gefühl der Ohnmacht stellen sich viele Bürger in Deutschland die Frage, ob die Demokratie noch in der Lage ist, mit den Krisen dieses Jahrhunderts fertig zu werden. So beschreibt zumindest Dr. Wolfgang Gründinger, Politikwissenschaftler und Publizist bei Enpal, das Dilemma Deutschlands auf der diesjährigen Deka Institutionell Investment-Konferenz.
Das Problem liege dabei in der Frage, ob demokratische Systeme überhaupt langfristig denken und handeln können, so der Politikwissenschaftler. Grundsätzlich stünde die Demokratie vor der Herausforderung, dass sie auf kurzfristige Mehrheiten ausgerichtet sei: „In einer Demokratie regieren auf Zeit gewählte Vertreter des Volkes. Dieser Mechanismus führt aber dazu, dass Demokratie auf die aktuellen Wählerinnen und Wähler und deren Gegenwartsinteressen ausgerichtet ist – und damit strukturell kurzsichtig ist.“ Die Mehrheit der Wählerinnen und Wähler in Deutschland sei zudem sehr alt; fast zwei Drittel aller Wahlberechtigten waren im Jahr 2021 älter als 50 Jahre. Gleichzeitig hätten Jugendliche keine Stimme: „13 Millionen Menschen mit deutschem Pass sind von der Wahl ausgeschlossen, weil sie unter 18 sind. Künftige Generationen werden überhaupt nicht berücksichtigt. Die Zukunft hat in unserem System kein Wahlrecht. Es zählen nur die Interessen der Gegenwart.“
Zwar könnten Politikerinnen und Politiker über eine Wahl hinausdenken. Aber sie riskierten eben, dafür abgestraft zu werden, da für Menschen der heutige Verlust schwerer wiege als mögliche Gewinne, die erst in der Zukunft liegen, gibt Dr. Gründinger zu bedenken. Darüber hinaus lähmten das in einer Demokratie notwendige Ringen um Konsens und die Beteiligung der Bürger eine schnelle und konsequente Umsetzung von Maßnahmen. Es sei daher schwer vorstellbar, dass in einem solch trägen und gegenwartsfixierten System radikale Maßnahmen in der nötigen Geschwindigkeit umgesetzt werden können – egal ob im Kampf gegen die Klimakrise, bei der Eindämmung von Pandemien oder im Wettrennen um Künstliche Intelligenz.
Die Demokratie im Wettbewerb der Systeme.
Auf der anderen Seite präsentierten sich autokratische Staaten wie China als die besseren Systeme, die nicht nur das langfristige Wohl ihrer Bürger im Blick hätten, sondern notwendige und tiefgreifende Maßnahmen zentral verordnen und schnell und effektiv umsetzen können. Zwar sei laut dem Experten China durchaus erfolgreich und die Resultate, etwa in der digitalen Vorherrschaft oder den massiven Investitionen in den Klimaschutz, bereits sichtbar. Der endgültige Beweis für die Überlegenheit des Systems stehe jedoch noch aus, unterstreicht Dr. Gründinger: „Die chinesische Erfolgsbilanz ist beeindruckend. Allerdings heißt dies nicht, dass autoritäre Staaten an sich bessere oder nachhaltigere Politik betreiben würden. So wurde der Corona-Impfstoff letztlich in westlichen Demokratien entwickelt.“ Beim Klimaschutz lasse sich sogar empirisch belegen, dass autoritäre Regierungen in der Regel die größten Klimasünder sind. Vor allem aber sei eine nachhaltige und langfristige Ausrichtung von Politik kein Selbstzweck, betont der Publizist: „Wir schützen das Klima ja nicht um des Klimas willen, sondern um des Menschen willen. Und was wäre der Mensch ohne Menschenrechte?“
Dies sollte jedoch kein Grund sein, das bestehende System in Deutschland nicht weiterzuentwickeln, schließlich seien Demokratien äußerst unterschiedlich. So kann sich Dr. Gründinger drei mögliche Maßnahmen vorstellen, welche die Chance haben, das politische System in Deutschland zukunftsfähiger zu machen. Erstens die Einführung von Bürgerräten als thematische und zeitweise Ergänzung zum Parlament, die nicht gewählt, sondern ausgelost würden und damit eine bessere Repräsentation der Gesellschaft darstellten. Nicht nur ließe sich so die Entfremdung zwischen Politikern und Bürgern und die Vertrauenskrise der Politik wieder verringern. Diese Gremien könnten auch Ideen für konkrete Probleme der Zukunft entwickeln und vorantreiben. So hätten Bürgerräte in Frankreich etwa dazu geführt, dass der Klimaschutz in die Verfassung aufgenommen wurde. In Irland hingegen konnte ein Bürgerrat den Weg zu einer Einigung beim Thema Schwangerschaftsabbruch ebnen. Durch die Einbindung von Bürgern böten Bürgerräte die Möglichkeit, emotional aufgeladene Themen aufzubrechen und zu lösen.
Dr. Wolfgang Gründinger
Politikwissenschaftler und Publizist, Enpal.
Der Zukunft eine Stimme geben.
Zweitens plädiert der Politikwissenschaftler für ein Wahlrecht für Jugendliche: „Die nächste Generation muss über ihre Zukunft mitbestimmen dürfen. Ein erster Schritt ist die Senkung des Wahlalters auf 14 Jahre. Dies wird zwar nicht zwingend zu mehr Nachhaltigkeit führen, zwingt die Parteien aber, junge Menschen stärker zu adressieren und ihre Interessen zu berücksichtigen.“ Dies sei für die Zukunftsfähigkeit der Demokratie unerlässlich argumentiert Gründinger, da die Forschung zeige, dass ältere Menschen deutlich seltener für zukunftsgewandte Themen wie kostenlose Kinderbetreuung, Klimaschutz oder Arbeitsmarktreformen stimmten. Bei Volksabstimmungen in der Schweiz hätte sich etwa gezeigt, dass die größte Variable bei Themen wie Renten oder Familienpolitik nicht die Gegensätze Stadt-Land, arm-reich oder Mann-Frau waren, sondern die Unterschiede alt oder jung.
Drittens müsse sichergestellt werden, dass auch künftige Generationen eine Stimme bekommen, die sie in die Waagschale der demokratischen Willensbildung werfen könnten. Dazu brauche es Treuhänder für künftige Generationen, die sich in Form von Jüngstenräten im politischen System einbringen könnten: „Wir könnten beispielsweise eine Art ständige Enquete-Kommission im Bundestag etablieren, die paritätisch mit Abgeordneten und jungen Menschen besetzt ist. Dieser Jüngstenrat könnte das Recht erhalten, Gesetzesvorlagen zu entwerfen und aktuelle Stunden im Bundestag zu beantragen. Es ist Wahnsinn, dass junge Menschen in diesem Land ihre Perspektive nicht einbringen können, und das muss sich ändern.“
Kulturkampf erfordert eine andere Form der Kommunikation.
Ein großes Problem der Demokratie ließe sich so jedoch nicht adressieren, warnt Gründinger. Es brauche eine andere Kommunikation und eine neue Form der Auseinandersetzung in Deutschland: „Die genannten Reformen des Systems können unsere Demokratie nachhaltiger machen, aber die Grundlage unserer Demokratie ist eine politische Kultur, die auf einer gemeinsamen Faktenbasis beruht. Diese gemeinsame Basis als Grundlage der Wahrheitsfindung und Debatte wurde in den vergangenen Jahren von verschiedenen Akteuren aufgelöst, um damit der Zukunftsfähigkeit von Demokratien zu schaden.“ Steven Bannon, der ehemalige Berater und Wahlkampfleiter von Donald Trump, habe diese Strategie treffend zusammengefasst in seiner Aussage „to flood the zone with shit“. Das Problem daran sei nicht die Lüge an sich, sondern, dass Wahrheit und Fakten als Kategorien abgeschafft wurden, da jeder Mensch andere Fakten habe.
Mittlerweile helfe es daher auch nicht mehr, Fakten wieder in den Fokus zur rücken, zeigt Experte Gründinger auf: „Wir können nicht mehr nur auf Faktenchecker setzen, wenn wir uns längst in einem Kulturkampf befinden.“ So hätte etwa die Debatte um die Wärmepumpe deutlich aufgezeigt, dass es sich hier nicht um eine faktenorientierte Auseinandersetzung mit einer effektiven Heiztechnologie gehandelt habe, sondern um einen Kulturkampf. Entsprechend seien viele Themen emotional aufgeladen, und Fakten würden nicht mehr helfen. In dieser Situation müssten zuerst die Emotionen der Menschen adressiert werden, damit wieder Raum für Fakten geschaffen werden kann, rät Gründinger. „Wir müssen viele Themen entemotionalisieren, dann schaffen wir wieder die Chance für einen gemeinsamen Diskurs.“
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