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Abnahme

Research und Märkte

Brexit - Die teuerste Scheidung aller Zeiten.

Zur Jahreswende wird das Vereinigte Königreich aus dem Wirtschaftsraum der EU ausscheiden. Der Kampf um neue vertragliche Beziehungen geht erbittert in die Endrunde. Umsichtige Anleger können trotz der aufgeheizten Stimmung aber gelassen bleiben.

November 2020

Scheiden tut weh. Und eine hässliche Scheidung ist besonders schmerzhaft – für das Herz und für die Brieftasche. Was am Ende des privaten Ehelebens gilt, das trifft auch für das Auseinanderleben von Staaten zu. Boris Johnson, Emmanuel Macron oder Angela Merkel ist das in diesen Tagen sehr bewusst. Bis auf Euro und Cent sogar. Denn können sich die Regierungschefs in den nächsten Tagen nicht auf neue Handelsregeln zwischen der EU und dem United Kingdom einigen, dann wird die Scheidung teuer. Extrem teuer. Bei einem harten Brexit müsste Großbritannien Einbußen von 57 Milliarden Euro verkraften und die 27 EU-Mitgliedsstaaten zusammen 40 Milliarden – davon allein Deutschland 10 Milliarden; und zwar jedes Jahr aufs Neue. Das hat eine Studie der Bertelsmann-Stiftung anhand von Simulationsrechnungen und Auswertungen europäischer Handelsströme nach dem Brexit prognostiziert; alle rund 300 Regionen in Europa und weitere Regionen der Welt haben die Forscher dazu unter die Lupe genommen. Dazu kommen erhebliche Wettbewerbsnachteile im globalen Maßstab, die allen Volkswirtschaften Europas auf sehr lange Sicht Schwierigkeiten bereiten werden. „Der Brexit könnte das Fundament des größten gemeinsamen Wirtschaftsraums der Welt schwer beschädigen“, resümiert Aart de Geus, Vorstandschef der Bertelsmann-Stiftung.

„Der Brexit könnte das Fundament des größten gemeinsamen Wirtschaftsraums der Welt schwer beschädigen.“

Vorstandschef der Bertelsmann-Stiftung.

Der No-Deal ist noch abwendbar.

Dieses Debakel ist indes nicht unausweichlich. Zwar gibt es auch hier, wie bei den meisten Scheidungen, kein Zurück. Doch die Staaten verhandeln mit Hochdruck, um einen langen Rosenkrieg zu vermeiden. In diesen Tagen muss „ein Handelsabkommen stehen, damit es rechtzeitig von allen EU-Mitgliedsstaaten beschlossen werden kann“, so die Volkswirte der Deka. Andernfalls drohen außer Grenzkontrollen auch neue Zölle. Banken könnten ihre Dienste nicht mehr im jeweils anderen Raum ungehindert anbieten, Fluglinien verlören Landerechte – und schlimmstenfalls könnte sogar der kriegerische Konflikt auf der irischen Insel wieder aufflammen. Die Folgen einer solchen Eskalation wären unabsehbar. Aber nicht unabwendbar. „Die Märkte sagen: Es gibt viel Säbelrasseln in den Verhandlungen – aber letztlich müssen gerade die Briten einlenken“, ist Philipp Spormann zuversichtlich. Der Aktienstratege im Fondsmanagement der Deka kennt die Lage in vielen Unternehmen, die vom Brexit betroffen sind; aber er weiß auch um die Befindlichkeiten auf der psychologischen Verhandlungsebene. „Boris Johnson hat sein Mandat von einer sehr konservativen Klientel – und muss denen gefallen. Darum wird er sich als harter Verhandler zeigen. Bis zuletzt.“ Der Kampf gegen die Uhr kann sich auch im Depot mancher Anleger bemerkbar machen: Der Brexit könnte für eine vorübergehende Verunsicherung an den Finanzmärkten sorgen. Das bedeutet: Aktienkurse von stark im zwischenstaatlichen Handel tätigen Firmen leiden, das Britische Pfund verliert an Wert und die „sicheren Häfen“ Gold und Staatsanleihen profitieren. Dagegen steht die grundsätzliche Stärke vieler europäischer Unternehmen in aller Welt – und auch ein Aufholpotenzial der hiesigen Märkte, etwa im Vergleich zu den USA. Wie langfristig die Folgen des endgültigen Brexits sind, hängt vom Geschick der Verhandler ab, so Marina Lütje, Volkswirtin im Makro-Research der Deka. Drei Knoten gelte es noch zu durchschlagen.

Erstens ein geregelter Zugang für EU-Fischer zu britischen Gewässern. Das ist für alle europäischen Staaten wirtschaftlich eigentlich von geringer Bedeutung, für ehemalige Seemächte und Nachbarn in der Nordsee wie Frankreich, Großbritannien, die Niederlande oder Dänemark aber hochemotional. „Dieses Thema könnte zur Not ausgeklammert und in eine separate Regelung für 2021 verschoben werden“, so Lütje. Zweitens geht es um das sogenannte Level Playing Field: Die EU will den Briten nur dann zollfreien Zugang zum Binnenmarkt gewähren, wenn diese gleiche Umwelt-, Sozial- und Beihilfestandards einhalten. Das sieht London als Einmischung in die britische Souveränität. Hier könnte es bis zu einer späteren Vereinbarung zumindest Übergangsregeln geben. Und drittens verlangt die EU ein überstaatliches Schlichtungsinstrument. Die Briten wollen aber keine höhere Instanz als die eigenen Gerichte anerkennen. Auch in diesem Punkt könnte sich Johnson jedoch auf Kompromisse einlassen, um zumindest einen abgespeckten Deal mit freiem Marktzugang für den Handel zu erreichen.

Lebensdauer EU-Zugang.

Waren aus der EU wollen die Briten ohnehin schon einmal einseitig viel länger als bis zum 31. Dezember ungehindert in das Königreich lassen. Denn ohne möglichst freien EU-Zugang ist die Insel ökonomisch fast verloren. 43 Prozent des gesamten britischen Exports fließen in die EU; in die andere Richtung sind es nur 10 Prozent. Und in komplexen Industrien wie Chemie, Autobranche oder Maschinenbau gehen Vorprodukte bisher mehrmals hin und her vom Kontinent auf die Insel und umgekehrt – bevor danach das Endprodukt „made in Britain“ wieder in den EU-Raum verkauft werden soll. „Wenn Zölle in Kraft träten, würde das die Wettbewerbsfähigkeit deutlich mindern“, sagt etwa Mike Hawes, Chef des britischen Automobilverbands. Um mehr als ein Drittel ist der Output der Branche 2020 ohnehin bereits eingebrochen.

Die Firmen sorgen vor.

Der Aktienwert der Konzerne ist allerdings nicht annähernd so stark betroffen. Britische, ausländische und multinationale Konzerne wie Jaguar Land Rover, Bayer oder EasyJet haben bereits Lieferketten oder gleich ganze Produktionen in die EU verlagert. Auch die Finanzdienstleister, die bei den gegenwärtigen Verhandlungen erst einmal außen vor bleiben, haben massiv Geschäft aus der Londoner City nach Frankfurt, Dublin oder Paris abgezogen. Gibt es auch hier mittelfristig nur erschwerte Dienstleistungen über die Grenzen hinweg, könnten zumindest Geldhäuser aus den Vereinigten Staaten oder Japan ihre Firmensitze auf den Kontinent verlagern. Da, wo die meisten Kunden sind. Wer also als langfristiger Anleger auch in Europa breit aufgestellt ist, wird am Ende von den Folgen des Brexits weniger belastet werden. Dazu kommt, dass der grundsätzliche Wachstumspfad intakt bleibt und viele Firmen in Zukunftsfeldern gut aufgestellt sind. Eine positive Brexit-Folge ist zudem: Es gibt viel neues Geschäft zu gewinnen. Im Jahr 2019 etwa haben britische Unternehmen Waren für 188,5 Milliarden Euro in der restlichen EU verkauft; die Dienstleistungsexporte etwa für Finanzgeschäfte noch gar nicht eingerechnet. Allein die chemische Industrie des UK lieferte 2019 Produkte für fast 36 Milliarden Euro in die Europäische Union, Erdölerzeugnisse machten weitere 17 Milliarden Euro aus. Hier können auch deutsche Unternehmen einspringen. Die EU-Statistikbehörde Eurostat hat ermittelt, dass die am meisten exportierten Waren Maschinen, Elektrotechnik, Autos und Autoteile sowie chemische Erzeugnisse waren. Allesamt Produktgruppen, bei denen EU-Staaten wie Frankreich, Spanien oder die Niederlande ebenfalls starke Unternehmen am Start haben. Und vor allem Deutschland, so die deutsche Außenhandelsförderung Germany Trade and Invest (GTAI). Annika Pattberg, Leiterin des Londoner GTAI-Büros, rechnet denn auch fest damit, dass „britische Waren Lieferanteile in den EU-Ländern verlieren, weil sie teurer und weniger schnell verfügbar sein werden“.

Brexit-Gewinner rund um die Welt.

Allerdings könnten Gewinner der zähen Trennung in Europa auch außerhalb der EU sitzen. Laut Bertelsmann-Studie würden etwa die US-Einkommen nach einem harten Brexit um 13 Milliarden Euro jährlich steigen, in China um 5 Milliarden und in Japan um 1,8 Milliarden. Denn „der Handel innerhalb Europas würde teurer und die Wirtschaftsbeziehungen mit dem Rest der Welt attraktiver“, so die Wissenschaftler. Auf den Rest der Welt hat auch Premier Johnson noch große Hoffnungen – insbesondere auf die USA. Möglichst freier und bevorzugter Handel mit der Wirtschaftsmacht soll zumindest teilweise die Verluste im EU-Handel ausgleichen. Noch-US-Präsident Donald Trump, der in der EU einen „Feind, schlimmer als China“ sieht, feuert die Briten beim harten Nein zu Europa an. Mit seiner Abwahl ist dieser Honeymoon indes vorbei. Denn die künftige US-Regierung sieht den Welthandel wieder realistischer – und im riesigen Wirtschaftsraum EU einen natürlichen Partner und Verbündeten. Für den irischstämmigen kommenden Präsidenten Joe Biden ist zudem jede harte Grenze zwischen der Republik Irland und dem britischen Nordirland ein No-Go. Johnson will genau die in letzter Konsequenz durchsetzen. Dann aber gebe es „absolut keine Chance“ auf einen Freihandelsvertrag zwischen London und Washington, so die demokratische Sprecherin des Repräsentantenhauses Nancy Pelosi.

Der Anleger kann gelassen bleiben.

Eine schmutzige Scheidung aber, ganz ohne Aussicht auf einen neuen starken Partner, die tut noch einmal mehr weh. Die Deka Volkswirte halten denn auch weiter die Einigung in letzter Minute für wahrscheinlicher als den No-Deal. Wer langfristig breit gestreut Vermögen bilde, der könne ohnehin gelassen bleiben. Und Aktienstratege Spormann sagt, dass Corona oder die Konflikte zwischen China und den USA weit bedeutender seien für die Kursentwicklungen. Der Brexit dagegen sei im Wesentlichen an den Börsen verdaut. Zudem „geht es bei der Aktienauswahl in einer globalisierten Welt ohnehin immer weniger um Länder selbst, sondern eher um Themen“, so der Deka-Experte. Nur wer bei Megatrends der Zukunft wie Nachhaltigkeit oder Digitalisierung vorne sei, der bleibe attraktiv für die Anleger – ganz gleich, ob er seine Geschäfte nun aus Paris, Peking oder Portsmouth lenkt.

Quelle: fondsmagazin.de

Die jährlichen Kosten beziehungsweise Zusatzeinnahmen durch einen harten Brexit für ausgewählte Länder in Milliarden Euro, gemessen an Prduktivität und Preisaufschlägen auf der Basis von Kennzahlen aus dem Jahr 2019.

Quelle: Bertelsmann-Stiftung, Stand: 31.03.2019