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Europa vor der Wahl.

Ukraine-Krieg, angespannte Beziehungen zu China und feine Risse im Bündnis mit den USA – die Europäische Union ist in der Defensive. Gut, dass es die Union überhaupt gibt, einzeln wären die Länder schwächer, betont Deka-Chefvolkswirt Ulrich Kater. Allerdings benötige die EU den Rückhalt der Wähler bei den Europawahlen vom 6. bis 9. Juni. Nur so werde sie auch die neuen Herausforderungen meistern können.

Juni 2024

Emmanuel Macron hat ein Faible für den großen Auftritt. Seine Grundsatzrede an der Pariser Sorbonne im Vorfeld der Europawahlen spickt Frankreichs Präsident mit dramatischen Appellen: Das Schicksal Europas hänge an „Entscheidungen, die jetzt zu treffen sind“. Er fordert eine stärkere EU, ansonsten stehe der Abstieg bevor – der Kontinent drohe schon bald „geschwächt und abgehängt“ zu werden. Bundeskanzler Olaf Scholz, der bekanntermaßen deutlich weniger zur Theatralik neigt, lässt hingegen vor der Wahl sein Motto „Besonnen handeln“ plakatieren.

„Die Europäische Union ist nach wie vor vorrangig ein wirtschaftlicher Zusammenschluss“, sagt Deka-Chefvolkswirt Ulrich Kater. „Als solcher funktioniert die EU in der Tat nicht nur immer noch, sondern sogar immer besser – allerdings in einer friedlichen Welt. Leider erleben wir gerade einen Wandel hin zu mehr Konflikten, der die EU vor neue Herausforderungen stellt. Wie wir damit umgehen, wird auch vom Ergebnis der Europawahl abhängen.“

Wirtschaftlich spielt Europa seit Langem erste Liga – als eine der reichsten Regionen überhaupt mit 18 Prozent Anteil am globalen Bruttoinlandsprodukt und dem größten integrierten Binnenmarkt der Welt, auf dem mehr als 23 Millionen Unternehmen tätig sind. Wie stark das Team EU aufspielen kann, bekam beispielsweise Aussteiger Großbritannien nach dem Brexit 2020 zu spüren. Als die Handelsbeziehungen beider Seiten in Abkommen neu geregelt wurden, fiel das Ergebnis eindeutig aus. „Auf sich allein gestellt konnten die Briten bei den Verhandlungen keinen einzigen Punkt auf ihrer Wunschliste durchsetzen“, betont Ulrich Kater. Längst möchte die Mehrheit auf der Insel zurück in die Gemeinschaft.

Die EU im Realitätscheck.

Neben dem Brexit bewältigte die Europäische Union auch die Finanzmarktkrise ab 2008 mit Erfolg – Skeptiker sagten damals das baldige Ende des Euro voraus. Die EU trug zudem dazu bei, dass die Corona-Pandemie nicht zu einer Abwärtsspirale der Konjunktur führte. Auf einen Wirtschaftseinbruch von 6,1 Prozent 2020 folgte sogleich ein Anstieg von 5,4 Prozent 2021. Und allen Unkenrufen zum Trotz kann sich auch die Bilanz der Gemeinschaftswährung sehen lassen. „Die Inflation war in den 25 Jahren seit Einführung des Euro im Durchschnitt niedriger als in den letzten 25 Jahren der D-Mark“, so der Deka-Chefvolkswirt.

So erfolgreich und einig die EU als Vertreter wirtschaftlicher Interessen ihrer Bürger oft agiert, die Union ist kein allgemeiner politischer Zusammenschluss. In Feldern wie der Verteidigungs-, Sozial-, Kultur- und Außenpolitik fallen nach wie vor wichtige Entscheidungen in den souveränen Nationalstaaten. Beispiel Verteidigungspolitik: Deutschland ist zwar militärisch mit Abstand der größte Unterstützer der Ukraine hinter den USA, aber in der EU insgesamt „mangelt es an der Fähigkeit, effizient zu handeln, die Strukturen sind sehr kleinteilig“, so der Deka-Chefvolkswirt.

Dr. Ulrich Kater

Chefvolkswirt der Deka

Vor allem auch in den – schwieriger werdenden – Handelsbeziehungen der Europäer zu Ländern wie China, Indien oder den USA hängt laut Kater viel davon ab, ob Europa in Zukunft einheitliche Positionen formulieren und ein außenpolitisches Selbstverständnis entwickeln kann. Denn stehen die EU-Mitglieder den globalen Champions einzeln gegenüber, bestehe die Gefahr, dass sie gegeneinander ausgespielt werden.

Kater sieht bei Kompetenzfragen Europas auch die Bürgerinnen und Bürger mit in der Verantwortung: „Die Europawahl auszulassen, weil die Parlamentarier in Brüssel vermeintlich wenig Einfluss haben, ist genau der falsche Weg. Nur wenn die Wähler dem Europaparlament bei der Stimmabgabe und in der öffentlichen Debatte den Rücken stärken, kann die Europa-Idee sinnvoll vertieft werden.“ Die engere verteidigungs- und außenpolitische Zusammenarbeit in Europa ist nach Katers Einschätzung die wichtigste Aufgabe für die kommende Legislaturperiode.

Regelwerke reduzieren.

Auf Platz zwei der wichtigsten Themen folgt für ihn der Bürokratieabbau. Selbst wenn es gut gemeint sei, schieße die europäische Gesetzgebung zu oft über das Ziel hinaus. Beispiel Klimaschutz: Die EU ist Vorreiter beim Ausbau der erneuerbaren Energien, 2023 erreichte der Anteil grünen Stroms den Rekordwert von 44 Prozent – nach 38 Prozent im Jahr 2022. Doch mit welchem Aufwand? Die Dekarbonisierung wird mit ausufernden Programmen und Regelwerken wie dem „New Green Deal“, „Fit for 55“ und Taxonomie vorangetrieben. Kater: „Das ist komplizierter und weniger flexibel als beispielsweise der US-amerikanische Ansatz, Unternehmen mit dem Inflation Reduction Act (IRA) auf einfache Art Steuererleichterungen und Subventionen zu gewähren, um Klimaziele zu erreichen.“ Den Ursprung der überbordenden Bürokratie verortet der Deka-Chefvolkswirt allerdings nicht nur im Europäischen Parlament oder der Kommission, sondern vor allem auch in den Mitgliedsländern.

Sollte die EU in der kommenden Wahlperiode bei der engeren Abstimmung von Verteidigungs- und Außenpolitik sowie dem Bürokratieabbau vorankommen, dann wäre bereits viel gewonnen, ist Kater überzeugt.

Solide Haushaltspolitik wichtig.

Wichtig wird zudem eine solide Haushaltspolitik der EU-Mitglieder sein. Mittlerweile überschreitet die Staatsschuldenquote in sechs Ländern der Eurozone die Marke von 100 Prozent des BIP. „Solange die realen Zinsen so niedrig sind wie jetzt, ist das noch tragbar“, so Kater. „Aber die Schulden dürfen nicht weiter wachsen und müssen in manchen Staaten sinken. Es ist die große Verantwortung der EU-Kommission, auf die Einhaltung der Schuldenregeln zu achten.“

Die Konjunktur unterstützt bei dieser Aufgabe. Die Wirtschaftsteilnehmer haben das abrupte Ende der Nullzins-Ära inzwischen verdaut und sich an die Normalisierung von Inflations- und Zinsniveau gewöhnt. Die Deka prognostiziert 1 Prozent Wachstum für Euroland in diesem Jahr und 1,5 Prozent für 2025.

Was bedeutet das für Anlegerinnen und Anleger? Ulrich Kater: „Möglicherweise profitieren Nebenwerte, also kleinere europäische Aktiengesellschaften mit Fokus auf ihre Heimatmärkte, in den kommenden ein bis zwei Jahren stärker vom zu erwartenden Aufschwung in Europa. Für das Grundkonstrukt des Portfolios sind Standardwerte – international tätige, große Unternehmen – aus Europa, den USA und Asien ratsam.“

Europa als vernünftiges Gemeinwesen.

Doch was wäre, wenn sich die Wähler als Spielverderber dieses positiven Szenarios erweisen und noch stärker für antieuropäische Parteien votieren? „Eine gewisse Europaskepsis war in Teilen der europäischen Bevölkerung immer vorhanden, was auch legitim ist, denn Europa-Duseligkeit nützt niemandem. Die Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger in den Mitgliedsländern ist für Europa, weil sie immer stärker spüren, dass da ein bisschen mehr Gemeinsamkeit als nur gute Nachbarschaft besteht“, sagt der Deka-Chefvolkswirt, der überzeugt ist, dass dies auch in Zukunft so bleiben wird. „Allerdings muss immer wieder ausgelotet werden, wie die europäische Zusammenarbeit fortentwickelt werden sollte, damit es nicht zu wenig, aber auch nicht zu viel Europa gibt."

Quelle: fondsmagazin

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