Regulatorik
Große Abschreibungsrisiken im Anlagevermögen – Versicherungen unter Druck.
Aufgrund der unerwartet deutlichen Zinserhöhungen der EZB sind die Anleihekurse im Euroraum massiv eingebrochen – insbesondere langlaufende Anleihen hatten teilweise über 50 Prozent Kursverluste zu verzeichnen. Dieses Szenario ist für die meisten Versicherungen neu, sie stehen vor der Frage, ob und wie diese Verluste im Anlagevermögen bilanziell zu erfassen sind. Patrizia Gruszczyk, Expertin für Kundenregulatorik bei der Deka, fasst die schwierige Situation zusammen.
November 2022
Das Jahr 2022 markiert die Rückkehr der Zinsen – im bisherigen Jahresverlauf hat die EZB die Zinsen in drei Schritten um insgesamt 2,00 Prozentpunkte erhöht. Für Vermögensverwalter und Asset Manager ist dies ein Grund zur Freude, sind doch seitdem Anleiheinvestments durchaus wieder attraktiv. Auch Unternehmen mit Pensionszusagen profitieren, da mit steigenden Zinsen ihre Pensionsverpflichtungen rechnerisch sinken. Versicherer und Pensionskassen stehen jedoch mit Blick auf ihre Bilanzen vor gänzlich neuen Herausforderungen.
Denn das neue Marktumfeld stellt bisherige Bilanzierungs- und Bewertungsregeln auf den Kopf, so Patrizia Gruszczyk, Expertin für Kundenregulatorik bei der Deka: „Wir erleben aktuell eine absolute Ausnahmesituation: Nie zuvor haben die Zentralbanken in so kurzer Zeit so stark die Leitzinsen angehoben. Die daraus resultierenden Kursverluste, insbesondere bei langlaufenden Anleihen führen, zu großen stillen Lasten in den Zinsportfolien von Versicherungen und entsprechend zu massiven Abschreibungsrisiken im Anlagevermögen. So sind etwa 50-jährige Anleihen aus Österreich von rund 144 Euro im Dezember 2021 auf ca. 58 im Oktober 2022 gefallen – ein Kursverlust von über 86 Euro, also knapp 60 Prozent.“
Diese Verluste wirken sich auch auf die Bilanzierungspraxis aus. So gilt für Anlagen im Umlaufvermögen das strenge Niederstwertprinzip, das eine Zu- und Abschreibungspflicht auch bei vorübergehenden Wertschwankungen vorsieht. Wertsteigerungen und -minderungen auf den Marktwert müssen zum Stichtag entsprechend berücksichtigt werden und können zu noch nicht realisierten Gewinnen oder Verlusten führen.
Ermessenspielraum führt zu großer Unsicherheit.
Das Problem liegt im Anlagevermögen. Versicherungen investieren aufgrund der langen Laufzeiten ihrer Verpflichtungen einen Großteil ihrer Mittel in Anleihen mit langer Duration, die dem Anlagevermögen zugeschrieben werden. Darauf ist das gemilderte Niederstwertprinzip anzuwenden, welches einen Ermessensspielraum vorsieht. Genau dabei stehen viele Versicherungen nun vor großen Fragen, so Gruszczyk, denn: „In der Vergangenheit galt es als selbstverständlich, dass Wertverluste im Anlagevermögen nicht planmäßig abgeschrieben werden müssen, und eine außerplanmäßige Abschreibung bei Finanzanlagen nur bei einer dauerhaften Wertminderung erfolgen muss. Sofern also von einer Dauerhalteabsicht der Unternehmen ausgegangen werden konnte und Anleihen am Stichtag zu pari zurückgezahlt werden, ging man bisher nicht von einer Abschreibungspflicht aus. Bei einer bonitätsinduzierten, dauerhaften Wertminderung mit erwarteten Rückzahlungen unter pari hingegen wurde eine Abschreibungspflicht angenommen. Zinsinduzierte Wertänderungen wurden in der Vergangenheit als vorübergehend betrachtet.“ Da es auch handelsrechtlich keine gesetzliche Definition gibt, wann bei Finanzanlagen eine dauerhafte Wertminderung vorliegt, stellt der aktuelle Zinsanstieg die Praxis vor die entscheidende Frage: Können die kürzlich verzeichneten zinsinduzierten Wertverluste noch als „vorübergehend“ betrachtet werden? „Aktuell beobachten wir am Markt kontroverse Diskussionen und eine große Unsicherheit, wie insbesondere mit den Kursverlusten bei sehr langlaufenden Anleihen umgegangen werden soll“, berichtet Gruszczyk. Denn gehe man davon aus, dass die Zinsniveaus über einen langen Zeitraum weiter steigen, seien bei voraussichtlich dauernder Wertminderung außerplanmäßige Abschreibungen vorzunehmen. „Viele Versicherungsunternehmen stellen sich daher nun die Frage, wie diese Vorgabe zu interpretieren ist – muss für Anleihen mit mittleren und langen Restlaufzeiten von einer ‚voraussichtlich dauernden Wertminderung‘ ausgegangen werden? In diesem Fall müssten deutliche Abschreibungen auf den Wert der Anleihen vorgenommen werden“, erläutert die Expertin für Kundenregulatorik. Mit Annäherung an den Fälligkeitsstichtag wiederrum seien dann jährlich Zuschreibungen zu verbuchen, bis der Wert der Anleihen wieder dem Nominalbetrag entspricht.
Höhe der Abschreibungen unklar.
Eine weitere Herausforderung stellt die Höhe der Abschreibungen dar. Laut HGB muss die Bewertung der Vermögensgegenstände bei Ab- und Zuschreibungen mit dem beizulegenden Wert erfolgen. Dieser ist in der Gesetzgebung jedoch nicht klar definiert. „Für viele Versicherungen ergeben sich aus dieser Unklarheit große Unsicherheiten, da eine fehlerhafte Bewertung schnell auch zu Problemen mit der Aufsicht führen kann“, bedauert Gruszczyk. Versicherungsunternehmen stehen vor ungeahnten Herausforderungen. Sie sollten daher zeitnah in den Dialog mit ihrem Wirtschaftsprüfer und den Aufsichtsbehörden treten, um Fehler bei der Bilanzierung zu vermeiden. Mit entsprechender Vorbereitung lassen sich unter Umständen auch die Chancen auf Entnahmen aus der Zinszusatzreserve nutzen und so eventuelle Verluste aus Abschreibungen kompensieren.
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