Deka Institutionell Investment-Konferenz 2021
Der Mensch und seine Beziehungen als Maßstab in Zeiten vielfältiger Krisen.
Die ersten Jahrzehnte des 21. Jahrhunderts sind bislang durch eine Vielzahl politischer und sozialer Krisen sowie durch Naturkatastrophen gekennzeichnet. Wie sollten Menschen und Gesellschaften damit umgehen? Die Ethikerin und vormalige Vorsitzende des Europäischen Ethikrates Prof. Dr. Christiane Woopen sieht vor allem in den vielfältigen Beziehungen des Menschen einen Schlüssel zum Verständnis von Krisen und ihrer möglichen Bewältigung.
Januar 2022
Die Corona-Pandemie und der Klimawandel, der Brexit und die politischen Konflikte zwischen den Großmächten, wachsender Einfluss komplexer Technologien, dazu das Gefühl einer starken gesellschaftlichen Polarisierung: Das 21. Jahrhundert ist bislang auch ein Zeitalter der Krisen. Der Historiker Heinrich August Winkler bezeichnete die Zeit nach dem Terroranschlag des 11. September 2001 als den „Beginn des Zeitalters der allgemeinen Verunsicherung“, stellt die Ethikerin Prof. Dr. Christiane Woopen auf der diesjährigen Deka Institutionell Investment-Konferenz fest.
Allen Krisen liegt nach Auffassung von Frau Woopen eine Störung menschlicher Beziehungen zugrunde: zur Natur, zu anderen Menschen und letztendlich zu sich selbst. Die Vorsitzende des Europäischen Ethikrates plädiert deshalb dafür, den Menschen und seine Beziehungen als Maßstab zu sehen, um Krisen zu verstehen, zu bewältigen oder womöglich zu vermeiden: „Werden Beziehungen als flach, repulsiv, kalt, hart und unberechenbar erfahren, folgt das, was der Soziologe Hartmut Rosa eine ‚Resonanzkatastrophe′ nennt. Sind sie jedoch flüssig und lebendig, kann sich ein Leben entwickeln, das sich entfalten und blühen kann.“ Auch so ein „flourishing life“ habe Krisen zu bewältigen. Aber es könne sie eher zum Guten wenden und unnötige Krisen gar vermeiden.
Störungen in den Beziehungen des Menschen existieren für Woopen auf unterschiedlichen Ebenen. Da sei zunächst die Beziehung zur Natur. Der Umgang des Menschen mit ihr sei heute vor allem durch die technisch-instrumentelle Ausnutzung gekennzeichnet. Christiane Woopen macht das an einem Beispiel fest: „Das Global Footprint Network berechnet jährlich den Tag, an dem die Menschheit der Erde mehr an Substanz entnommen hat, als sie in dem jeweiligen Gesamtjahr nachbilden kann. Dieser ‚Earth Overshoot Day′ fiel 2021 auf den 29. Juli. Dabei ist bemerkenswert, dass in der gesamten Menschheitsgeschichte der jährliche Verbrauch die zur Verfügung stehenden Ressourcen erst in den vergangenen 50 Jahren übersteigt. Seither verschiebt sich dieser ‚Erdüberlastungstag′ unaufhaltsam früher in den Jahresverlauf.“ Das menschliche Verhalten hat Folgen für Klima und Artenvielfalt und damit auch für die menschlichen Lebensbedingungen. Selbst da, wo Menschen die Natur als Rückzugsoase aufsuchen, sei die Beziehung instrumentell geprägt. Der eigene Wert der Natur um ihrer selbst willen wird nicht anerkannt.
Inflationäre Vernetzung – aber zunehmende Beziehungslosigkeit.
Und die Beziehungen zu anderen Menschen? Prof. Dr. Woopen sieht ein zweigeteiltes Bild: „Wir haben in diesem Sommer bei der Flutkatastrophe eine überwältigende Hilfsbereitschaft gesehen. Menschen aus ganz Deutschland haben vor Ort mit angepackt oder Geld, Kleidung und Möbel gespendet. Aber es gibt auch die andere Seite: zunehmender Antisemitismus, Rassismus, Homophobie, Hass in sozialen Medien. Diese Phänomene zeigen, dass wir in einer Gesellschaft inflationärer Vernetzung bei gleichzeitig zunehmender Beziehungslosigkeit leben.“
Statt zuzuhören und den anderen wahrzunehmen, werde schnell geurteilt. Das sei keine Grundlage für gute und lebendige Beziehungen. Menschen mit einer solchen Einstellung seien keine Bürger, die gemeinsam Krisen bewältigen oder etwas Neues zusammen schaffen würden. Eine Demokratie lebe aber davon, dass Menschen mit unterschiedlichen Vorstellungen in Frieden zusammenleben und in einem offenen Diskurs Gesellschaft gestalten können.
Psychische Erkrankungen durch Social Distancing.
Wenn die Beziehung zu anderen gestört sei, liege es nahe, dass auch etwas an der Beziehung des Menschen zu sich selbst nicht stimme. „Ein Mensch, der mit sich selber im Reinen ist, muss keinen anderen Menschen herabwürdigen“, so Woopen. Anlässlich des Reformationstages 2021 wurden Studierende in Köln danach befragt, was ihnen in Krisen wie der Corona-Pandemie helfe. Genannt wurden unter anderem die Familie, Gespräche mit Freunden, der Kontakt zu Tieren oder Musik. Für Woopen steht fest: „Diese Dinge konnten helfen, weil die Menschen von ihnen ‚berührt′ wurden, weil sie ihnen das Gefühl vermittelt haben, lebendig und nicht einsam zu sein.“ Deshalb habe umgekehrt das Social Distancing während der Lockdowns neben dem eigentlich gewünschten körperlichen auch zu einem verstärkten sozialen Abstand geführt. Für viele Menschen habe das veränderte Leben psychische Störungen, Ängste und ein Gefühl der Zukunftslosigkeit nach sich gezogen. Psychische Erkrankungen seien noch mehr zu einem Volksleiden geworden. Die Nachfrage nach Achtsamkeitskursen, Meditation und spirituellen Gemeinschaften aller Art sei gestiegen. Das Bedürfnis, zu sich selbst eine gute Beziehung zu haben, sei da, aber: „Es ist eben nicht so einfach, eine gute Beziehung zu sich selbst zu entwickeln und zu bewahren. Zudem bildet diese sich immer erst in der Beziehung mit einem Gegenüber heraus.“
Qualität menschlicher Beziehungen als Schlüssel zur Krisenbewältigung.
Deshalb sieht Prof. Dr. Woopen in der Qualität menschlicher Beziehungen den Schlüssel: „Krisen stellen in Frage, was für sicher gehalten wurde. Diese im besten Sinne radikalen, an die Wurzeln gehenden Fragen müssen aus Beziehungen heraus beantwortet werden, denn Krisen liegen gestörte, verhärtete Beziehungen zugrunde.“ Es gelte, sich auf den Menschen zu besinnen und zu fragen, wodurch sich seine Beziehungen zur Umwelt, zu anderen Menschen und zu sich selbst auszeichnen. „Den Menschen in Zeiten vielfältiger Krisen zum Maßstab zu machen, heißt also, neu darüber nachzudenken, was wir unter Menschsein und Beziehungen verstehen, wie wir in Beziehungen leben wollen und diese Erkenntnisse dann im gesellschaftlichen Umgang miteinander zu verankern“. Sie fordert: „Lassen Sie uns gemeinsam eine Praxis lebendiger Beziehungen verfolgen!“
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