Trends und Innovation
„Die Richtung stimmt, das Tempo nicht“
Mehr Strom aus Wasserkraft, Solaranlagen und Windrädern – der Anteil erneuerbarer Energien in Deutschland fordert die Infrastruktur. Im Interview erklärt Professorin Astrid Nieße, wie sich der Weg in die Klimaneutralität mit datenbasierten Technologien erfolgreich beschreiten lässt.
November 2024
Interview mit Astrid Nieße, Professorin für Digitalisierte Energiesysteme an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg.
Frau Nieße, der Anteil von Gas und Kohle am deutschen Energiemix sinkt. Stattdessen steigt die Stromproduktion aus Wind- und Solaranlagen. Kann Deutschland so seine Klimaziele erreichen?
Die Richtung in Deutschland stimmt, das Tempo nicht. Aber schauen Sie sich an, welche Dynamik allein im Bereich der Balkonkraftwerke zu verzeichnen ist: 400.000 steckerfertige Solaranlagen sind in diesem Jahr auf Balkonaußenseiten neu installiert worden. Das ist eine Verdoppelung der Leistung bei diesem Anlagentyp. Inzwischen zählt das Marktstammdatenregister der Bundesnetzagentur insgesamt mehr als 700.000 Anlagen, die „Dunkelziffer“ liegt noch weitaus höher. Das kann sich sehen lassen.
Der meiste Ökostrom in Deutschland wird im Norden produziert, der größte Bedarf besteht aber in anderen Regionen. Wie kann das Angebot so gesteuert werden, dass nicht zu wenig oder zu viel Strom zum Beispiel in den Süden fließt?
Durch eine Kombination verschiedener Maßnahmen. Eine intelligente, digitale Steuerung hilft beispielsweise, die Netzauslastung zu optimieren und Verbrauchsspitzen zu reduzieren. Letztlich wird man aber nicht umhinkommen, vor allem die Stromnetze auszubauen. Denn die unmittelbare räumliche Nähe zwischen Produktionsstätten, also großen etwa mit Kohle oder Gas betriebenen Kraftwerken, und verbrauchsstarken Regionen wird nicht so bleiben.
Die Stromerzeugung aus erneuerbaren Energien ist aber oft auch wetterabhängig. Wie werden die unvermeidlichen Produktionsschwankungen ausgeglichen?
Der Schlüssel liegt in der Flexibilisierung auf allen Seiten. Zum einen durch anpassungsfähigere Erzeugungskapazitäten, sodass man es sich leisten kann, zeitweise auf erneuerbar produzierten Strom zu verzichten, weil genügend Reserve- und Speicherkapazitäten vorhanden sind. Dann eine bessere Verteilung über unsere Netze. Und schließlich flexiblere Lasten – auch bei Industriebetrieben lassen sich diese besser auf die gegebenenfalls sogar eigene Erzeugung und Speicherung abstimmen. Im Kleinen sehen wir das heute schon bei Privathaushalten, die ihre eigene Photovoltaikanlage nutzen.
Astrid Nieße
ist Professorin für Digitalisierte Energiesysteme an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg und Mitglied im Vorstand des OFFIS – Institut für Informatik. Sie forscht unter anderem zur Digitalisierung von Energiesystemen mithilfe von selbstorganisierenden Verfahren und Software-Agenten und betreut weitere anwendungsbezogene Forschungsprojekte mit Partnern aus Energiewirtschaft und Energietechnik.
Welche Rolle spielen KI und Digitalisierung dabei?
Unsere Energiesysteme, insbesondere das Stromnetz, befinden sich seit geraumer Zeit in einem Digitalisierungsprozess. Dadurch stehen uns immer mehr Daten zur Verfügung, die einen besseren Einblick in den Zustand und die Auslastung der Netze ermöglichen. Mit mehr Daten können wir nun auch lernende Verfahren aus dem Bereich der künstlichen Intelligenz einsetzen. Damit lassen sich zum Beispiel Verbrauchs-, aber auch Erzeugungsprognosen erstellen, etwa durch die Vorhersage von Sonnenstunden. Gleichzeitig können wir in Teilbereichen der Netze mehr Autonomie zulassen.
Das müssten Sie bitte erläutern.
Gerne. Zurück zu den bereits erwähnten Balkonkraftwerken: Früher wusste man nicht, wie sich der Strombedarf eines bestimmten Haushalts über den Tag entwickelt. Die Versorger haben sich lieber mit sogenannten Standardlastprofilen beholfen, die zum Beispiel von einem Durchschnittsverhalten in Bezug auf die Nutzung von Kochgeräten ausgegangen sind. Dies führte zu einer gewissen Unschärfe hinsichtlich des tageszeitlichen Strombedarfs. Mit dem Vormarsch der Balkonkraftwerke kippt dieses Prognosemodell: Die Menschen nutzen den damit erzeugten Strom bevorzugt selbst und speisen damit zum Beispiel ihre Waschmaschine, wenn gerade die Sonne kräftig scheint. Mit intelligenten, digitalen Stromzählern vor Ort könnten wir dieses Verhalten erkennen und die Bereitstellung zusätzlich benötigter Strommengen auch kurzfristig viel besser planen. Daten ermöglichen also die bereits erwähnte Flexibilisierung. Digitalisierung ist von daher eine wirksame Lösung für viele Herausforderungen der Energiewende.
Die EU und andere Branchenorganisationen prognostizieren für die kommenden Jahre einen steigenden Stromverbrauch. Der Ausbau der Kapazitäten kommt aber häufig nicht schnell genug voran. Welche Lösungen sehen Sie?
Der Stromverbrauch wird steigen. Das liegt allein schon an der zunehmenden Verlagerung verschiedener Energiebedarfe in das elektrische Energiesystem – zum Beispiel, wenn die Mobilität mit Elektrofahrzeugen erfolgt. Der Zentralverband Elektrotechnik- und Elektronikindustrie (ZVEI) spricht hier sogar von der All Electric World, in der alle Energiebedarfe elektrisch gedeckt werden. Damit stehen wir aber noch nicht vor einem Blackout, insbesondere dürfen wir die Rolle des europäischen Verbundnetzes nicht vergessen. Die Transformation der Energiesysteme ist ein Prozess im laufenden System – es läuft also. Aber wir betreiben unser Energiesystem häufiger an seinen zulässigen Grenzen. Die Digitalisierung erlaubt uns jedoch – zum Beispiel über smarte Steuerungssysteme, – hier ebenso dynamisch zu reagieren.
Wie kann Technologie die Akzeptanz verbessern?
Wir sollten so wenig wie möglich nach Akzeptanz fragen, sondern sie dadurch erreichen, dass die Technologien funktionieren und einen Nutzen bringen. Dann werden die Menschen sie auch verwenden. Im Strombereich sind Haushalte und Unternehmen nach wie vor alle an ein großes Verbundnetz angeschlossen. Es gibt also keinen Grund, warum es so sein sollte, dass zum Beispiel die Wohnung kalt bleibt, weil das E-Auto geladen wird. Was wir aber noch erreichen müssen, ist, dass die privaten Verbraucher mehr Vertrauen in die Zuverlässigkeit neuer Technologien im Energiebereich bekommen. In der Industrie stellt sich die Frage nach Vertrauen oder Akzeptanz anders. Hier stehen Zuverlässigkeit und ökonomische Fragen noch stärker im Vordergrund, es werden aber auch neue Geschäftsmodelle auf der Basis neuer Technologien entwickelt. Beispielsweise werden Speicherkapazitäten aufgebaut, um erneuerbar produzierten Strom dann am Markt zu verkaufen, wenn die Nachfrage hoch ist und der Preis steigt. Dynamische Stromtarife – Strom ist etwa nachts billiger als tagsüber, wenn der Verbrauch hoch ist – werden aktuell eingeführt und sicherlich in den kommenden Jahren massiven Einfluss auf Privathaushalte haben.
Welche Effizienzpotenziale sehen Sie im Erzeugungsmanagement von Strom?
Da gibt es noch Luft nach oben. Der Anlagenbetrieb etwa kann durchaus noch optimiert werden. Bei den technischen Komponenten, die benötigt werden, um erneuerbare Energien in den Netzbetrieb zu integrieren, sind weiterhin vergleichsweise große technologische Fortschritte zu beobachten – bei Photovoltaikanlagen etwa bei den Wechselrichtern, die Gleichspannung in Wechselspannung umwandeln. Daraus ergeben sich Potenziale zur Verbesserung der Nutzung regenerativ erzeugten Stroms, indem die Erzeugungsanlage besser an das Netzsystem angebunden wird. So können auch kleine Photovoltaikanlagen mit ihren Wechselrichtern aktiv zur Stabilisierung der Stromnetze beitragen. Früher war dies klassischerweise die Aufgabe von Großkraftwerken. Digitalisierung stellt in vielen Bereichen die Grundlage für Innovation dar.
Quelle: fondsmagazin
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