Abnahme

Research und Märkte

Arbeiten, bis die Funken fliegen?

Ein Großkonzern nach dem anderen kündigt Stellenabbau an. Gleichzeitig klagen Unternehmen, dass sie keine Fachkräfte finden. Wie passt das zusammen, und was kann man dagegen tun?

März 2024

Die deutsche Wirtschaft stagniert seit Monaten, und die großen Konzerne tun das, was sie in solchen Phasen schon oft getan haben. Sie bauen Stellen ab. BASF, Bosch, Volkswagen, Bayer, Conti – die besten Adressen der deutschen Industrie kündigen Massenentlassungen an. Zuletzt kam die Hiobsbotschaft von ZF Friedrichshafen: Allein bei dem Autozulieferer sollen 12.000 Stellen wegfallen. Nun reiht sich auch der Hausgerätehersteller Miele in diese Liste ein: Die Traditionsmarke, ein Familienunternehmen in vierter Generation, streicht rund 2.000 Stellen. Die Arbeitslosenquote in Deutschland lag 2023 bei 5,7 Prozent, was etwa dem Schnitt der vergangenen zehn Jahre entspricht, die Tendenz ist aber steigend.

Gleichzeitig reißen die Klagen nicht ab, dass überall Arbeitskräfte fehlen. Der Ende 2023 vorgelegte Bericht der Deutschen Industrie- und Handelskammer (DIHK) listet auf: Personalengpässe beträfen die „Breite der Wirtschaft“ und zögen sich durch alle Branchen und Berufe. „Einige Branchen sprechen nicht nur von Lücken bei Fachkräften, sondern von einem allgemeinen Mangel an Arbeitskräften“, so der stellvertretende DIHK-Hauptgeschäftsführer Achim Dercks. Einer aktuellen Schätzung zufolge blieben 1,8 Millionen Stellen in der Gesamtwirtschaft unbesetzt.

Andreas Scheuerle, der bei der Deka den Bereich Industrieländerkonjunktur und Branchenanalysen leitet, hat gleich ein ganzes Bündel von Erklärungen parat, die er auch jüngst in einer Studie „Arbeitskräftemangel – wir stehen erst am Anfang“ zusammengefasst hat. „Aktuell der wichtigste Grund für den Fachkräftemangel in Deutschland ist: Wir haben pro Kopf eine im internationalen Vergleich sehr geringe Arbeitszeit. Pro Woche, pro Jahr, pro Erwerbsleben leisten wir pro Kopf gesehen einfach zu wenig Arbeit. Was für den Einzelnen erfreulich ist, erweist sich für die Volkswirtschaft als kontraproduktiv“, sagt der Deka-Analyst.

„Wir müssen wieder mehr arbeiten“

Für das Tech-Team rund um Köcher und seinen Kollegen Andreas Wagenhäuser, der den Deka-Digitale Kommunikation managt, ist das Thema künstliche Intelligenz zu einer Herausforderung geworden. „Dass eine Firma ‚irgendwas‘ mit KI anbietet, ist für uns kein echtes Argument, in die Aktie einzusteigen.“ Sie suchen nach konkreten Anhaltspunkten beim Thema KI, die für ein Investment sprechen. „Welche KI-Produkte hat ein Unternehmen bereits auf den Markt gebracht? Was können diese Produkte? Und welche Umsätze werden damit bereits erzielt?“, beschreibt Köcher sein Vorgehen. „Ein wichtiger Aspekt ist für uns auch, worauf die Strategie bei der Entwicklung von KI-Anwendungen abzielt“, ergänzt Gero Stöckle aus dem Tech-Team der Deka.

Mit dieser Analyse steht Scheuerle nicht allein. Im Kampf gegen den Fachkräftemangel fordert auch der Direktor des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW), Michael Hüther, längere Arbeitszeiten. „Wir müssen wieder mehr arbeiten – so wie es die Schweiz vormacht“, sagt er und verweist auf das Ausland: In der Schweiz und in Schweden würden Vollzeitbeschäftigte fast 300 Stunden pro Jahr länger arbeiten als in Deutschland. Nur in den Niederlanden und Dänemark sei die Wochenarbeitszeit noch kürzer als bei uns. Aber natürlich kommt es auch auf die Zahl der Menschen an, die in Teilzeit arbeiten. Hier liegt Deutschland ebenfalls, vor allem bei den Frauen, in der Spitzengruppe.

Kurze Arbeitszeiten mögen das Problem des Fachkräftemangels erklären, aber warum kommt es trotzdem zu Entlassungswellen? Auch darauf hat Scheuerle eine Antwort: „Es gibt immer wieder einen Mismatch zwischen den Qualifikationen, die von den Erwerbspersonen angeboten werden, und denen, die von den Unternehmen nachgefragt werden“, stellt er fest. Die Gründe dafür? „Das kann am Bildungssystem liegen, an der Berufswahl, aber auch am Strukturwandel.“ Mit dem Bildungssystem und der Berufswahl spricht Scheuerle das an, was IW-Professor Axel Plünnecke in einer aktuellen Studie so beschreibt: Immer weniger junge Menschen studieren sogenannte MINT-Fächer. Besonders groß seien die Engpässe in der Informatik, aber auch Elektrotechniker, Maschinenbauer und Bauingenieure würden gesucht. „Schon heute fehlen rund 140.000 MINT-Fachkräfte – Tendenz steigend. Das sind alarmierende Nachrichten für Deutschland“, warnt der IW-Professor. Im Jahr 2023 würden zudem fast 250.000 Handwerkerstellen in Deutschland unbesetzt bleiben, rechnet das IW vor.

Beim Thema Strukturwandel verweisen Scheuerle und andere zum Beispiel auf den Umbruch in der Automobilindustrie. Wer sein Leben lang in dieser Branche gearbeitet und Verbrennungsmotoren gebaut hat, kann und will oft nicht in kurzer Zeit auf Elektroantriebe und die dahinterliegenden intelligenten Steuerungstechnologien umsteigen. Der Strukturwandel führe letztlich zu einer „Entwertung von Bildungsbiografien“, stellt Scheuerle fest und beschreibt damit das Phänomen, dass diejenigen, deren Arbeitsplätze verschwinden, nicht immer diejenigen sind, die an anderer Stelle gebraucht werden.

Schließlich erklärt Scheuerle das Phänomen des Fachkräftemangels bei gleichzeitigem Stellenabbau damit, dass „Arbeitskräftemangel auch weiteren Arbeitskräftemangel produzieren kann“. Als Beispiel nennt er den Pflegebereich: „Wenn es zu wenige Arbeitskräfte gibt, müssen die vorhandenen mehr arbeiten. Überlastung, Arbeitsplatzwechsel und eine geringe Attraktivität dieser Berufe verschärfen den bereits bestehenden Mangel.“

Die Folgen der Demografie zeigen sich bald.

Einen weiteren Faktor, der den Fachkräftemangel beschleunigen wird, rückt Scheuerle derzeit noch in den Hintergrund: die Demografie. Nach Berechnungen von Christina Wilke, Dozentin an der Universität Bremen und Arbeitsmarktforscherin, könnte die Zahl der Menschen im erwerbsfähigen Alter von knapp 50 Millionen vor zehn Jahren auf 34 Millionen im Jahr 2060 sinken. „Für den Arbeitsmarkt bedeutet dies, dass das maximal verfügbare potenzielle Arbeitskräfteangebot noch stärker schrumpft als die Bevölkerung insgesamt“, so die Expertin. Scheuerle stellt mit Blick auf die aktuelle Situation klar: „Derzeit wirken sich demografische Faktoren in Deutschland und Europa noch kaum auf den Arbeitsmarkt aus. So hat Deutschland im vergangenen Jahr durch Zuwanderung einen Bevölkerungshöchststand erreicht. Vor allem durch Flüchtlinge aus der Ukraine.“ Allerdings: „Schon in naher Zukunft werden wir die Folgen der Demografie umso stärker zu spüren bekommen.“

Was kann helfen? Während etwa Hüther und Scheuerle hier vor allem auch ein mehr Arbeiten sehen, bringen Berater – oft nicht ganz uneigennützig – mehr digitale Prozesse ins Spiel. Das naheliegendste Instrument ist die Übernahme von Aufgaben, die bisher von Menschen erledigt wurden. Dafür eignen sich alle Tätigkeiten, die mehr als einmal in gleicher oder ähnlicher Form ausgeführt werden. Von der Überprüfung bestimmter Daten über die Beantwortung von Anfragen bis hin zur Weiterleitung von Informationen oder der völlig autonomen Erstellung von Dokumenten. Die Digitalisierung entlaste die Mitarbeitenden, reduziere Fehler und helfe, Daten zu sammeln, um die eigenen Prozesse zu optimieren, heißt es beispielsweise bei Ewico, eine auf kleine und mittlere Unternehmen spezialisierte Beratungsfirma.

Die Digitalisierung und zunehmend auch der Einsatz künstlicher Intelligenz könnten den Fachkräftemangel lindern – wenn die Angst vor diesen Werkzeugen nicht um sich greifen würde, beobachtet Jens Südekum, Professor für Volkswirtschaftslehre an der Universität Düsseldorf und Mitglied im Wissenschaftlichen Beirat des Bundeswirtschaftsministeriums. „Die Furcht vor technologisch bedingter Massenarbeitslosigkeit zieht sich durch die Geschichte“, sagt er. Schon Aristoteles habe davor gewarnt. Doch Südekum beruhigt und verweist auf die Historie: „Arbeitsplätze fallen weg, neue entstehen.“ Auch durch die Computerisierung in den vergangenen Dekaden ist der Anteil der weggefallenen Arbeitsplätze nicht höher als in den 1990er-Jahren – seit 2005 ist er sogar geringer. Dies widerlegt die verbreitete Vorstellung, die Aufbau- und Abbauraten würden steigen und der Trend ginge in Richtung eines „Turboarbeitsmarkts”, schreibt die Bundesagentur für Arbeit in einem ihrer Forschungsberichte.

Das Argument spricht für den Einsatz von KI und digitalen Prozessen. Das heißt aber auch, dass der Fachkräftemangel am Ende nicht verschwindet, weil ja auch neue Jobs entstehen Südekum sieht das ähnlich, fügt aber hinzu: „Wir müssen uns in Deutschland wirklich entscheiden, wovor wir Angst haben wollen: vor dem Fachkräftemangel oder vor Massenarbeitslosigkeit. Beides gleichzeitig geht nicht.“

Quelle: fondsmagazin

weitere interessante Artikel