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Trends und Innovation

„KI ist auch hierzulande Wachstumstreiber“

Komplettzugriff auf alle Geschäftsdaten, einfache Sprachbedienung, schnelle Lösungen für anstehende Aufgaben: KI wird zum zentralen Schlüssel für Industrieanwendungen und Geschäfte der Zukunft. Europas größter Anbieter von Firmensoftware SAP startet derzeit eine Initiative, um mit künstlicher Intelligenz die Möglichkeiten seiner Kunden zu vervielfachen. Philipp Herzig, Chief AI Officer von SAP, erläutert, wie das funktionieren soll, was der Innovationssprung bedeutet und welche Risiken es gibt.

März 2024

Interview mit Philipp Herzig, Chief AI Officer von SAP.


ChatGPT, Gemini und andere Chatbots haben die Kraft der künstlichen Intelligenz für Hunderte Millionen Menschen zum alltäglichen Gesprächspartner gemacht. Ist dieser Siegeszug der KI eher ein Türöffner für ähnliche Anwendungen in Unternehmen – oder erschwert er womöglich wegen der Missbrauchsrisiken die Akzeptanz?

Wir haben es in der Hand, ob die signifikanten Veränderungen durch KI einen Innovationsschub für Deutschland und Europa bringen. Natürlich müssen wir die Risiken kennen und minimieren. Wichtiger ist es aber, diese neuen Möglichkeiten auch als Chance für Unternehmen zu begreifen.

Für neues Wachstum, höhere Umsätze und Gewinne?

Wir stehen an dem Punkt, an dem generative KI auch die Geschäftsprozesse in Unternehmen maßgeblich verändern wird. Die Unternehmensberatung McKinsey hält KI für einen Produktivitäts-Booster und sieht weltweite Zuwächse in Billionenhöhe. V­oraussetzung ist, dass die Unternehmen KI konsequent nutzen. So viel steht fest: KI wird die Art und Weise, wie wir arbeiten und leben, signifikant verändern.

Und da will SAP als Europas größter Anbieter von Firmensoftware ja eine zentrale Rolle spielen. Was bieten Sie denn Ihren 24.000 Geschäftskunden weltweit in Sachen KI?

KI ist ein fester Bestandteil unserer Software, eingebettet in Prozesse und Anwendungen.

Was bringt das?

Nur im konkreten Unternehmenskontext und basierend auf den entsprechenden Daten kann die Technologie bei unternehmenskritischen Entscheidungen unterstützen. Dieser kontextuale Rahmen fehlt KI-Modellen, die auf öffentlich zugänglichen Daten trainiert wurden. Sie könnten zwar Uniprüfungen bestehen, da das notwendige Wissen im Internet zu finden ist, jedoch nicht eine komplexe unternehmensspezifische Fragestellung beantworten. KI ist nur so gut, wie die ihr zugrunde liegenden Daten, auf denen sie trainiert ist.

… und die Kundinnen und Kunden, die das dann auch anwenden. Wo liegt der Extra-Nutzen beim KI-Einsatz?

Unsere Kunden profitieren in erster Linie davon, dass wir mit unseren Lösungen Geschäftsprozesse mit KI unterstützen, beziehungsweise vereinfachen. Das gilt im Personalwesen genauso wie etwa im Finanzbereich, in der Lieferkettenoptimierung, im Kundenmanagement.

Philipp Herzig

Philipp Herzig ist Chief AI Officer, Head of Intelligent Enterprise and Cross Architecture bei SAP Product Engineering. Seine neue Organisation soll KI für Unternehmen entwickeln, die über das gesamte SAP-Portfolio hinweg eingesetzt wird – und berichtet in dieser Rolle direkt an Vorstandschef Christian Klein. Zusammen mit seinem Team ist der promovierte Ingenieur verantwortlich für die Entwicklung des Intelligent Enterprise, die Entwicklung von Cloud- und mobilen Anwendungen und die Definition der Architekturgrundlage. Während seiner früheren Laufbahn hatte der Inhaber vieler Software-Patente verschiedene Positionen im SAP Innovation Center Potsdam inne und leitete Flaggschifflösungen, die er selbst initiiert und entwickelt hatte.

Haben Sie dafür ein Beispiel?

Etwa die Optimierung von Lagereingangsprozessen. Da geht es um die Verarbeitung von Lieferscheinen, wenn Lkw-Fahrer Ware anliefern. Die müssen generiert und ausgefüllt werden, damit die Ware den Weg ins Lager findet. In einem Projekt, das wir mit zehn Co-Innovationskunden durchgeführt haben, darunter auch aus der Automobilbranche, konnten durch die generative KI signifikante Einsparungen erzielt werden. Bei Hunderten von Werken summiert sich das auf Millionen Euro. Für uns ist von größter Bedeutung, dass der Mehrwert der Anwendung für unsere Kunden klar erkennbar ist. Es geht um nachweisbare und überzeugende Ergebnisse.

Was ist denn derzeit Ihre wichtigste KI-Anwendung?

Wir schauen uns immer das große Ganze an. Denn die größten Wertschöpfungen können Kunden erreichen, wenn KI über das gesamte Portfolio hinweg eingebettet ist. Das hat für uns Priorität. Ein Beispiel hierfür ist unser Co-Pilot Joule.

Was macht der?

Joule liefert schnelle, intelligente Erkenntnisse per Sprachbefehl. Dabei durchsucht Joule zahlreiche Geschäftsdaten aus dem ganzen SAP-Portfolio sowie aus Quellen von Drittanbietern und behält den Geschäftskontext bei.

Und ich kann dann als Mitarbeiterin oder Mitarbeiter eines Firmenkunden direkt mit der KI interagieren, die alle Daten aus dem Unternehmen kennt?

Vereinfacht ausgedrückt, ja. Nutzer können seit November 2023 mit Joule in natürlicher Sprache kommunizieren und so beispielsweise Informationen erhalten, analytische Fragen stellen oder einfach zur gesuchten Stelle im System navigieren. Dabei greift Joule sowohl auf Daten aus den eigenen SAP-Lösungen als auch auf andere Quellen zurück.

Praktisch wie ein Super-Wikipedia mit Möglichkeiten zur Analyse der Daten?

Noch viel mehr: Joule steht nicht nur mit nützlichen Informationen zur Seite, sondern kann auf Geheiß des Nutzers auch direkt Aufgaben im System erledigen – und das über Produktgrenzen hinweg. Wir erreichen das durch die tiefe Integration in unsere Software, weshalb Joule von Tag eins an einen klaren Mehrwert schafft. Durch die Breite unseres Portfolios gibt es wohl so gut wie keinen Geschäftsprozess, der nicht von SAP abgebildet wird.

Klingt erst mal kompliziert.

Das schlägt sich natürlich auch in Form von Komplexität nieder – und genau hier trägt Joule zu einem komplett neuen Nutzungserlebnis bei: Der Endnutzer muss nicht wissen, welches System im Hintergrund benötigt wird, um eine konkrete Aufgabe zu erledigen. Mit Joule reicht es, die Aufgabe in natürlicher Sprache zu formulieren. Das steigert die Produktivität immens.

Für manche Kunden ist das bestimmt auch unheimlich. Da könnte ein Entwickler, die Finanzerin oder der Einkäufer in einem Konzern doch instinktiv zurückzucken, bevor er mit Ihrem Joule über die Geschäftsgeheimnisse plaudert.

Ganz klar: In den Unternehmen muss es eine offene Kommunikation über KI geben, um Vorbehalte und Ängste abzubauen und das Vertrauen in die Technologie zu stärken. Dazu gehört auch, deutlich zu machen, dass KI nicht Menschen ersetzen soll, sondern vielmehr ein Werkzeug ist, das sie in ihrer Arbeit unterstützt und zu einem effizienteren und effektiveren Geschäftsbetrieb beitragen kann. Für SAP hat verantwortungsbewusste KI oberste Priorität, denn unsere Systeme enthalten sensible Daten. Unsere höchsten Standards sind Ethik, Sicherheit und Datenschutz.

Woran merkt der Kunde Ihren besonderen Datenschutz?

Zum Beispiel, indem wir sicherstellen, dass Kundendaten niemals zum Trainieren oder zur Verbesserung von öffentlichen Sprachmodellen verwendet werden.

Also den Large Language Models, kurz LLM, wie sie den genannten Chatbots im Web zugrunde liegen?

Genau. Kundendaten verlassen niemals eine SAP-Umgebung.

Aber Sie wollen doch auch interne Daten mit dem Wissen des Web verquicken?

Natürlich. LLMs von Drittanbietern werden aber nur für aufbereitetes Wissen verwendet, sodass Kundendaten nicht außerhalb eines SAP-Systems gespeichert werden. Dies folgt strengen Prozessen und Bedingungen, wie der Anwendung von Anonymisierungsalgorithmen.

Muss das alles immer in der Cloud stattfinden statt im firmeneigenen, abgeschotteten Großrechner? Viele Firmen fürchten ja noch, all ihr Wissen in die Cloud auszulagern.

Softwarelösungen ohne KI werden langfristig nicht bestehen können. Als ein Cloud-first-Unternehmen sehen wir KI als entscheidendes Element für die Langlebigkeit und Effektivität unserer Lösungen. Die Cloud ist der Schlüssel hierfür.

Warum?

KI-Features in einer Business-Applikation müssen out-of-the-box funktionieren. Denn wenn viel nachtrainiert oder das Datenschema harmonisiert und auf die Standardprozesse angepasst werden muss, ist es letztendlich nicht mehr rentabel für den Kunden. KI muss skalierbar und ökonomisch sein, um sie in die Breite zu bringen – und das geht nur in der Cloud. Wir unterstützen unsere Kunden bei der Umstellung auf die Cloud und bei der Einführung und Nutzung cloudbasierter Innovationen, damit sie innovationsfähiger werden und bleiben können.

Da müssen Sie ja sicher oft noch reichlich Überzeugungsarbeit leisten. Sind deutsche und europäische Unternehmen beim Einsatz von künstlicher Intelligenz noch zurückhaltender als etwa US-amerikanische oder chinesische?

Laut einer Studie des Branchenverbandes bitkom sehen zwar 68 Prozent aller Unternehmen in Deutschland die Wichtigkeit von KI und halten sie für die wichtigste Zukunftstechnologie, aber nur 15 Prozent verwenden sie bereits. Das ist noch nicht der dringend benötigte KI-Innovationsschub, und das gilt es zu ändern, damit in Zukunft nicht nur eine Minderheit, sondern ein Großteil aller Unternehmen KI nutzt.

Liegt das vielleicht auch manchmal am Zugang zur Cloud – etwa, wenn die Firma keinen schnellen Internetzugang hat?

Im Vergleich zu US-amerikanischen Unternehmen haben wir in Europa aber auch einen Nachteil in der Infrastruktur. Es braucht mehr Investitionen in Infrastruktur und Entwicklung von KI, um das große Potenzial für Deutschland und Europa zu nutzen. Künstliche Intelligenz ist auch hierzulande ein Wachstumstreiber. Laut einer IW-Studie können Systeme mit generativer KI zur Wertschöpfung der deutschen Wirtschaft in Höhe von rund 330 Milliarden Euro beitragen.

Welche Branchen und Bereiche sind denn beim Einsatz von KI besonders weit?

Gefragt ist, was den Arbeitsalltag erleichtert und manuelle, personalintensive Tätigkeiten ablöst. Ein gutes Beispiel ist der Personalbereich: Die ersten Lösungen mit generativer KI haben wir schon Ende letzten Jahres bereitgestellt. Sei es die Generierung von Stellenanzeigen auf Knopfdruck oder die Zeitersparnis von bis zu 20 Prozent durch den Einsatz von Joule bei der Bearbeitung von Anfragen der Mitarbeitenden an die Personalabteilung. Auch in der Konsumgüter- und Einzelhandelsbranche können KI-gestützte Lösungen zu effizienteren Lieferketten, verbesserten Finanzprozessen oder verbesserten Dienstleistungen führen.

Aber auch zu weniger Personalbedarf. SAP baut ja selbst gerade 8.000 Stellen ab, die wegen KI kein ausreichendes Wachstumspotenzial mehr haben – anderswo im Unternehmen werden massiv Menschen gesucht. Ein Vorbild für die Transformation in der gesamten Wirtschaft?

Routinetätigkeiten werden zunehmend verschwinden. KI wird im Gegenzug aber auch neue Arbeitsfelder schaffen und bestehende Tätigkeitsprofile anreichern. Dies trifft früher oder später auf die gesamte Wirtschaft zu, davon bin ich überzeugt. KI bietet eine herausragende Chance, die Produktivität zu steigern. Als Tech-Unternehmen ist SAP hier natürlich in einer Vorreiterrolle. Wir bauen auch keine 8.000 Stellen ab, sondern richten Wachstumsbereiche neu aus. Zum Jahresende 2024 erwarten wir eine ähnliche Anzahl an Mitarbeitenden wie aktuell.

Jedoch nur, wenn es genug KI-fitte Mitarbeitende gibt. Ihr Vorstandschef Christian Klein klagt über den Fachkräftemangel gerade bei Softwareingenieuren. Brauchen wir schon deswegen KI, um fehlende Menschen zu ersetzen?

KI wird den Menschen nicht ersetzen. Aber sie kann und wird die Arbeit in bestimmten Branchen erleichtern und hat sogar das Potenzial, neue Arbeitsplätze zu schaffen. Für Fachkräfte können wir mit KI dort Freiräume schaffen, wo sie am meisten gebraucht werden, damit sie effizienter, schneller und produktiver arbeiten können und Zeit haben für komplexere, anspruchsvollere und befriedigendere, weniger repetitive Aufgaben. Es wird neue Berufsbilder geben, die eine Mischung aus technischen und menschlichen Fähigkeiten erfordern, wie Datenwissenschaftler, Ingenieure für maschinelles Lernen und KI-Trainer. Diese Chancen gilt es zu nutzen.

Quelle: fondsmagazin

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