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Research und Märkte

Globale Lieferketten unter der Lupe: Die Vielfalt der EU als Standortvorteil.

Lange haben deutsche Unternehmen und Verbraucher von der globalen Arbeitsteilung profitiert. In den letzten Jahren sind aber auch deren Nachteile deutlich geworden. Prof. Dr. Hubertus Bardt vom Institut der deutschen Wirtschaft und Deka-Experte Dr. Andreas Scheuerle über die Herausforderungen von Unternehmen und die Vorteile der EU in diesem Umfeld.

Februar 2024

Was haben Rebellen im Jemen mit einer Fabrik in Brandenburg zu tun? Wie man jetzt weiß, eine ganze Menge. Das Tesla-Werk in Grünheide musste im Januar für zwei Wochen die Fertigung einstellen, weil die Lieferketten nach den Angriffen der Huthi-Rebellen im Roten Meer unterbrochen waren. Ein weiteres Beispiel dafür, wie anfällig globalisierte Produktionsprozesse sind. Gleichgültig ob Pandemie, geopolitische Spannungen oder die Blockade des Suez-Kanals durch ein feststeckendes Containerschiff − die Auswirkungen waren stets in der Breite spürbar: fehlende Medikamente und medizinisches Material, stillstehende Produktionen sowie Engpässe bei Produkten und Materialien.

Die Probleme schienen ein Weckruf gewesen zu sein. Firmen verkündeten ihre Absichten, sich breiter aufzustellen oder wichtige Produktionsschritte wieder verstärkt in geographischer Nähe ansiedeln zu wollen. Politiker forderten für seltene Rohstoffe oder wichtige Produkte eine geringere Abhängigkeit von anderen Ländern. Was ist aus diesen Überlegungen geworden? Hintergründe und Einordnung im Gespräch mit Prof. Dr. Hubertus Bardt, Volkswirtschaftlicher Geschäftsführer des Instituts der deutschen Wirtschaft, und Dr. Andreas Scheuerle, Leiter Industrieländerkonjunktur und Branchenanalysen bei der Deka.

Dr. Andreas Scheuerle

Leiter Industrieländerkonjunktur und Branchenanalysen, Deka

Interview mit Deka-Experte Dr. Andreas Scheuerle und Prof. Dr. Hubertus Bardt vom Institut der deutschen Wirtschaft


Der Handelskonflikt zwischen China und den USA, der Krieg in der Ukraine und die Corona-Pandemie haben weltweit aufgezeigt, dass unser Wirtschaftssystem auf wackeligen Füßen steht. Das wurde während der Corona-Pandemie besonders deutlich sichtbar. Seitdem ist einige Zeit vergangen. Was ist in der Zwischenzeit passiert? Lässt sich tatsächlich eine Rückverlagerung von Produktion nach Deutschland beobachten?

Dr. Scheuerle: Wir sprechen bei der Deka regelmäßig mit einer Vielzahl von Unternehmen und Verbänden. Gleichzeitig untersuchen wir im Research-Team sehr genau, wie sich die Konjunktur und einzelne Branchen entwickeln. In den vergangenen Jahren haben wir, trotz gegenteiliger Bekundungen, kaum Rückverlagerung von Produktionsstätten nach Deutschland feststellen können. Zumindest die Corona-Pandemie war eine absolute Sondersituation. Diese Situation ist vorbei und der unmittelbare Druck, etwas zu ändern, hat nachgelassen.

Prof. Dr. Bardt: Diese Beobachtung kann ich nur bestätigen. Es herrscht viel Aufregung im Markt, aber es bleibt abzuwarten, wie dauerhaft die konkreten Maßnahmen der Unternehmen sein werden. Das ist jedoch nichts Neues – bereits gegen Ende der 2000er Jahre kam es aufgrund Seltener Erden zum Konflikt zwischen Japan und China und die deutsche Bundesregierung versprach, umgehend mit entsprechenden Maßnahmen wie Rohstoffpartnerschaften zu reagieren. Passiert ist – zumindest in Deutschland – am Ende nicht sehr viel. Japan hingegen co-finanziert seit dieser Zeit eine große Mine in Australien.

Herr Dr. Scheuerle, Sie sagen, dass Sie kaum Verlagerung von Produktionskapazitäten nach Deutschland sehen. Woran liegt dies?

Dr. Scheuerle: Die Standortbedingungen passen hier einfach nicht. Deutschland ist ein Hochlohnland, eine arbeitsintensive Produktion ist aus unternehmerischer Sicht nicht sinnvoll umsetzbar. Dazu kommen weitere Faktoren, die unser Land für Unternehmen unattraktiv machen: ein hoher Bürokratieaufwand, eine sich verschlechternde analoge und unzureichende digitale Infrastruktur, ein sinkendes Bildungsniveau, mangelnde Digitalisierung oder etwa der Fachkräftemangel. Auch hat Deutschland eine der höchsten Unternehmensbesteuerungen.

Eine Verlagerung von Produktion nach Deutschland ist also nicht attraktiv?

Prof. Dr. Bardt: Es gibt zwar keinen Trend zur Verlagerung von Produktion nach Deutschland, aber wir sehen durchaus mehr als nur Einzelfälle des Nearshoring, das heißt der Ansiedlung von Unternehmensprozessen in geographisch nah gelegene Staaten. Ähnlich ist auch das sogenannte Friendshoring, bei dem sich vor allem auf Länder mit gemeinsamen Werten konzentriert wird. Die EU ist hier nicht nur sehr breit aufgestellt, sondern bietet Unternehmen auch eine große Rechtssicherheit, politische Stabilität und gemeinsame Werte, das ist ein großer Vorteil. So sind beispielsweise in Portugal die Arbeitskosten im Vergleich zu Deutschland deutlich geringer, wodurch das Land als Produktionsstandort interessant sein kann. Frankreich hingegen hat sehr niedrige Strompreise, was für energieintensive Branchen spannend ist.

Dr. Scheuerle: Die Vielfalt der EU ist definitiv ein großes Plus. Mittel- und Osteuropa sind als Standorte äußerst attraktiv. So hat das Ausbildungsniveau der Arbeitskräfte in Osteuropa seit der EU-Integration spürbar zugenommen. Und während Deutschland, Belgien oder die Niederlande deutlich stärker vom Fachkräftemangel betroffen sind, sieht die Situation in Portugal, Spanien oder Griechenland ganz anders aus. Unbestritten ist, dass Deutschland als Standort wieder attraktiver werden muss. Statt Unternehmen mit exorbitanten Subventionen nach Deutschland zu holen, sollten wir uns darauf konzentrieren, unser Land für Unternehmen attraktiver zu machen. Es gibt immer noch zahlreiche Faktoren, die für Deutschland sprechen. Tatsächlich schätzen viele Unternehmen die politische Stabilität, die starke Forschung, den Finanzsektor oder die Marktgröße der EU als Absatzmarkt, aber es gibt eben auch die genannten Schwächen.

Prof. Dr. Hubertus Bardt

Volkswirtschaftlicher Geschäftsführer des Instituts der deutschen Wirtschaft

Aber was können Firmen stattdessen unternehmen, um sich resilienter aufzustellen?

Prof. Dr. Bardt: Aus unternehmerischer Sicht sind Lieferkettenprobleme ein finanzielles Risiko. Um dieses zu minimieren, gibt es verschiedene Ansätze. Einer davon ist die Verlagerung der Fertigung in die Nähe meiner Absatzmärkte, um die zurückzulegenden Wege zu reduzieren. Dies ist aber aus den von Herrn Dr. Scheuerle genannten Gründen für Deutschland nur bedingt realistisch. Eine Alternative ist die Diversifizierung der Lieferketten, d.h. die Verbreiterung und geographische Ausweitung meiner Lieferantenbasis. Dadurch kann ich das Risiko eines Totalausfalls reduzieren und so effektiv ein De-Risking vornehmen. Wir haben im Jahr 2023 eine Umfrage unter Unternehmen in NRW durchgeführt, bei der rund 40 Prozent der befragten Firmen ausgesagt haben, dass sie ihre Lieferketten anpassen wollen. Darüber hinaus bietet sich auch die Vergrößerung der Lager an. Hier lässt sich durchaus beobachten, dass der Trend hin zu einer größeren Vorratshaltung geht.

Dr. Scheuerle: Dabei handelt es sich allerdings um keine wirklich langfristige Lösung. Mit einer Vergrößerung der Lagerfläche verschafft man sich etwas Puffer in Notsituationen, aber einen Totalausfall einzelner Lieferketten aufgrund eines potentiellen Krieges von China mit Taiwan lässt sich so nicht auffangen. Dazu muss man seine Lieferketten schon deutlich diversifizieren. Allerdings ist das nicht immer so einfach.

Können Sie erläutern, wie Sie das meinen?

Dr. Scheuerle: Geopolitische Spannungen können ganze Regionen lähmen oder zentrale Transportwege beeinträchtigen. Eine Diversifikation der Zulieferer müsste daher sehr breit erfolgen. So würden beispielsweise Spannungen in der Südchinesischen See nicht nur China und die unmittelbar angrenzenden Länder treffen, sondern auch die weltweit wichtigste Seehandelsroute. Zudem bedeutet das Verteilen der Beschaffungsmenge auf mehrere unterschiedliche Lieferanten, dass die einzelnen Bestellmengen kleiner und die Kosten damit höher werden. Eine Diversifizierung der Lieferketten führt daneben noch zu einem weiteren Problem: Im Kampf gegen den Klimawandel fokussiert die EU verstärkt das Thema ESG. Unter diesem Gesichtspunkt ist es sinnvoll, sich auf ausgesuchte Lieferanten zu fokussieren.

Prof. Dr. Bardt: Die EU plant derzeit das Lieferkettengesetz, welches Unternehmen dazu verpflichtet, ihre Lieferketten stärker zu überprüfen und sie bei Verstößen gegen soziale, nachhaltige und menschenrechtliche Aspekte zur Verantwortung zieht. Die natürliche Reaktion wäre, sich auf die wenigen, besten Lieferanten zu beschränken. Dies steht aber im direkten Widerspruch zur Diversifizierung der Lieferketten, um etwa Versorgungssicherheit zu gewährleisten. Dazu kommt, dass wir bisher fast nur über die Beschaffungsseite gesprochen haben. Es gibt aber ja auch noch eine absatzseitige Sichtweise: Vielfach muss vor Ort produziert werden, um die großen Absatzmärkte bedienen zu können. So sind in China Netzwerke aus Autoherstellern und Zulieferern für den chinesischen Markt entstanden. Auch staatliche Local-Content-Vorgaben werden immer strenger. Und eines sollten wir nicht vergessen: Jede Form von De-Globalisierung, erzwungener Regionalisierung oder einer Diversifizierung der Lieferketten zur Risikoabsicherung wird einen Wohlstandsverlust bedeuten, sei es durch höhere Preise oder eine Reduzierung des Produktangebotes.

Quelle: fondsmagazin

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